Fluch und ­Segen der Kleinstaaterei

Vom Weltreich zur Insel der ­Seligen

Lohnend ist es und erhellend, sich die Geschichte unseres Landes immer wieder zu vergegenwärtigen. Vom keltischen Regnum Noricum bis zur neutralen Republik, die Mitglied der Europäischen Union ist, führt eine zweitausendjährige Geschichte, in der Österreichs Staatlichkeit die unterschiedlichsten Funktionen innehatte.
Nach der Eingemeindung der frühen keltischen Herrschaft in das Imperium Romanum war Noricum Nordprovinz hin zum Limes. Binnennoricum mit dem Zentrum des größten inneralpinen Beckens in den Ostalpen, also des heutigen Kärntens, war zwar bis zum Beginn der Völkerwanderung kaum umstritten, Ufernoricum allerdings hatte die Donaugrenze gegen die Barbaren zu verteidigen, war also Grenzland. Und während der Völkerwanderung wurde das Gebiet des heutigen Österreich zum Durchzugsterritorium der verschiedensten Stämme in Richtung Italien, Frankreich und Spanien. Danach fand das Eindringen der Alpenslawen statt, die dann ihrerseits durch die bairische und fränkische Landnahme überlagert wurden.
Grenzland war das Territorium an der Donau dann nach dem Untergang des Römischen Reiches auch für die Franken und die Bajuwaren. Zuerst Grenzmark gegen die Awaren, dann gegen die eindringenden Magyaren. Und schließlich wurde es unter den Babenbergern zum Vorposten der mittelalterlichen deutschen Ostsiedlung.
Erst mit der Übernahme der babenbergischen Erblande durch die Habsburger und deren Erlangung der Kaiserwürde wurden die Alpen- und Donaulande zu einem Machtzentrum des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Und die habsburgische Heiratspolitik war es, die aus diesem Machtzentrum den Mittelpunkt eines Reiches machte, das einerseits den deutschen Raum zu beherrschen suchte und andererseits von der Apennin-Halbinsel bis tief in den Balkan und Osten Europas ausstrahlte. Und nach der Erlangung der Niederlande und Spaniens wurde daraus jenes Reich Karls V., von dem gesagt werden konnte, dass darin die Sonne niemals untergehen würde. Für kurze Zeit eines der größten Weltreiche der Geschichte, halb Europa beherrschend, rund um das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und über Spanien und Portugal ganz Latein- und Mittelamerika.
Naturgemäß wurden in diesem Weltreich die deutschen Erblande Habsburgs, also das Erzherzogtum Österreich, die Herzogtümer Steiermark und Kärnten und die Grafschaft Tirol in eine eher periphere Rolle gedrängt. Und erst mit der Teilung in eine spanische und österreichische Linie des Erzhauses wurden diese deutschen Erblande wieder zum Zentrum und zur Basis des habsburgischen Machtanspruchs im deutsch-mitteleuropäischen Bereich.
Bereits im späten Mittelalter und der frühen Neuzeit ergab sich also für die Alpen- und Donaulande eine gewisse Pendelbewegung zwischen Machtzentrum und peripherer Provinz. Frühe Habsburger wie etwa Rudolf der Stifter versuchten gegen die machtpolitische Marginalisierung Österreichs anzukämpfen, indem sie dem Luxemburger-Kaiser, der in Prag residierte, Konkurrenz machten. Die Gründung einer Universität und der Bau des gigantischen Stephansdomes sind der beste Beweis dafür. Der langlebige Kaiser Friedrich III. fristete sein Dasein mehr oder minder eingesperrt in der Wiener Neustädter Burg, und doch vermochte sein Sohn Maximilian, die Basis für das Weltreich seines Enkels Karl zu legen. Und all das mit dem Ausgangspunkt der niederösterreichischen Provinz.
Österreichs Traum von der, zumindest Europa dominierenden Großmacht als Zentrum des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, war spätestens mit dem Auftreten des Korsen in der Folge der Französischen Revolution zu Ende. Die Niederlegung der Reichskrone im Jahre 1806 bedeutete das Ende eines tatsächlich tausendjährigen Reiches, und Habsburgs Dominanz im Deutschen Bund bis hin zur Schlacht von Königgrätz war nur mehr ein schwacher Abglanz dieser tausendjährigen Geschichte.
Dennoch vermochte das multinationale Habsburgerreich mit seinem machtpolitischen Zentrum in den deutschen Erblanden bis hin zum Ersten Weltkrieg den Großraum Ostmitteleuropas zu beherrschen und in gewissem Sinne auch zu europäisieren. Erst die Niederlage im Kriege und der zur Zivilreligion des 19. Jahrhunderts aufgestiegene Nationalismus der habsburgischen Völker vermochte dieses Reich zu zerstören. Der Rest war dann Österreich, unsere heutige Republik, der allgemein ersehnte Anschluss an Deutschland wurde von den Siegermächten verboten.
Diese Sehnsucht sollte dann zwei Jahrzehnte später im totalitären Zeichen des Hakenkreuzes zur Realität werden, wobei Österreich seine historische Identität zu verleugnen hatte und zur Ostmark degradiert wurde. Aber wiederum waren die „Alpen- und Donaugaue“, wie sie damals hießen, Teil eines Großreichs mit maßlosem Machtanspruch.
Und neuerlich forderte diese Teilhabe an einem Großreich ungeheure Opfer von unserem Land und seiner Bevölkerung. Millionen Tote hatte das Habsburgerreich schon im Ersten Weltkrieg zu beklagen, hunderttausende waren es im Zweiten Weltkrieg, wobei das Land auch großräumige Zerstörungen durch die Kriegsereignisse, insbesondere den Bombenkrieg zu verzeichnen hatte.
Nach 1945 hatte Österreich vom Machtanspruch des Erzhauses und von großdeutschen Träumen endgültig genug. Der Staat, den keiner wollte, wie die Republik in der Zwischenkriegszeit allenthalben gesehen wurde, sollte sich nach den leidvollen ersten Nachkriegsjahren und der Besatzungszeit zur „Insel der Seligen“ entwickeln. Mit dem einsetzenden Wirtschaftswunder und der immerwährenden Neutralität als politisches Gesamtkunstwerk in Zeiten des Kalten Krieges zwischen den beiden Supermächten entwickelten die Österreicher tatsächlich so etwas wie eine neue Identität: Klein aber fein, ein wenig opportunistisch, sich neutral aus allen Konflikten heraushaltend, mit einem prosperierenden Sozialstaat, in dem es allen Gesellschaftsschichten einigermaßen gut gehen sollte.
Mit dem Zusammenbruch des Warschauer Pakts und des real existierenden Sozialismus sowjetischer Prägung eröffnete sich für das östliche Mittel­europa die Chance, an der europäischen Integration teilzuhaben. Und davor hatte auch Österreich seine neutrale Position des Abseitsstehens de facto aufgegeben und war EU-Mitglied geworden. Womit wiederum das historisch für die Österreicher bestens bekannte Problem der Teilhabe an Großmächten beginnen sollte. Nun sollten nicht mehr primär die eigentlichen österreichischen Interessen, sondern echte oder vermeintliche europäische Bedürfnisse die Politik bestimmen. Und so wie im gegenwärtigen Krieg zwischen Russland und der Ukraine hat das nur mehr äußerlich neutrale Österreich europäische Positionen, die nur allzu oft jene der westlichen Vormacht USA sind, mitzutragen.
Die Insel der Seligen ist somit zur EU-Provinz geworden und die Segnungen der Kleinstaaterei, die wir in der Geschichte der Zweiten Republik über lange Jahre genießen konnten, lösen sich nach und nach auf. Wir sind wieder Teil eines Großreichs, wobei wir allerdings nicht mehr so wie in der Habsburger Zeit das Zentrum desselben sind, sondern nur mehr tiefste Provinz.

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