Eine Analyse
Bisher waren es nur Umfragen, die erkennen ließen, dass die tragenden politischen Kräfte der Zweiten Republik ausgedient haben. Demnach hätten die Volkspartei und die Sozialdemokratie nur mehr gut 40 Prozent der Wähler hinter sich und die weitaus stärkste Partei wäre die rechte Opposition, wären die Freiheitlichen. Wie gesagt, bis jetzt alles noch Umfragen. Nun allerdings dürfte die Hofburg-Wahl zum Amt des österreichischen Staatsoberhauptes erstmals anhand eines realen Wahlergebnisses beweisen, dass sich die politische Landschaft der Republik entscheidend gewandelt hat. Nicht nur, dass man einem jungen, verbindlichen und freundlichen FPÖ-Mann das höchste Staatsamt zutraut und damit zeigt, dass diese allzu lange ausgegrenzte und verteufelte politische Kraft längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen ist, nein, auch weil sich rein quantitativ erweist, dass längst andere politische Kräfte als Rot und Schwarz die breite Mehrheit der Bevölkerung vertreten. Wenn man nunmehr davon ausgeht, dass das politische System der Zweiten Republik der rot–schwarze bzw. schwarz–rote Proporz und damit auch immer wieder die alte, große Koalition ausgemacht hat, dann muss man somit den Befund akzeptieren, dass die Zweite Republik als solche ihre konstituierende Basis verloren hat und damit im Grunde aufgehört hat, zu bestehen.
Bereits einmal, nämlich in den 90er-Jahren, mit dem Aufstieg der Haider-FPÖ, schien sich eine solche Entwicklung anzubahnen. Die blau-schwarze Koalition vom Januar 2000 versuchte, die alte konsensuale Politik der rot-schwarzen Proporzpolitik in ein konfrontatives System umzuwandeln, in dem ein Mitte-Rechts-Block der Linken gegenüber stand. Dieser Versuch scheiterte kurzfristig allerdings, um noch einmal ein Aufleben der alten Proporz-Republik des alten rot–schwarzen Systems bis zum heutigen Tag zu ermöglichen. Nun scheint aber auch dieses letzte Aufflackern dieses Systems zu erlöschen. Am klarsten ist dies daran erkennbar, dass die Kandidaten von Rot-Schwarz hinter dem freiheitlichen und dem grünen Kandidaten und sogar hinter der unabhängigen Kandidatin liegen.
Aber zu welchem neuen politischen System kann diese neue politische Entwicklung führen? Der ÖVP-Kandidat Andreas Khol hat das in der vorigen Woche in der ORF-„Pressestunde“ angedeutet: Eine Zweierkoalition wird es in Hinkunft wohl nur mehr unter der Führung der FPÖ geben können. Was allerdings nicht bedeutet, dass die ausgediente rot-schwarze Koalition nicht versuchen könnte, mit Hilfe subsidiärer Kräfte wie der Grünen oder der NEOS doch noch eine knappe Mehrheit für eine Regierungsbildung zustande zu bringen. Was aber demokratiepolitisch zur völligen Katastrophe führen würde und das Anwachsen der Freiheitlichen bis hin zu einer absoluten Mehrheit nach sich ziehen könnte. Die dauerhafte Ausgrenzung einer 30-Prozent-Partei aus der Regierungstätigkeit dürfte also auf Dauer kaum möglich sein.
Allfällige Zweier-Regierungskombinationen in der Zukunft erweisen sich bei näherer Analyse wohl nur in eine Richtung als möglich. Auch wenn es in der freiheitlichen Tradition liegt, im „Zweifel liebermit Rot als mit Schwarz“ zu gehen, dürfte eine freiheitlich-sozialdemokratische Koalition nichtwirklich realisierbar sein. Allzu emotional und unvereinbar sind die Positionen der SPÖ-Linken und jener politisch korrektenZeitgeist-Kreise, die das Umfeld der alten Sozialdemokratie noch immer prägen.
Dass es allerdings einflußreiche Kräfte in der FPÖ gibt, die eine freiheitlich-sozialdemokratische Koalition befürworten, steht außer Zweifel. Unter der eher symbolischen Patronanz von Alt-Vizekanzler Norbert Steger dürfte hier nach wie vor der eine oder andere Faden gesponnen werden. Allein die Vranitzky-Doktrin ist in den letzten 20 Jahren allzu oft wiederholtworden und von großen Teilen der Sozialdemokratie auch wirklich verinnerlicht, um eine solche Variante zu ermöglichen.
Bleibt also die blau-schwarze Variante, die es unter Wolfgang Schüssel schon einmal gab und die mit dem „Inhalieren“ weiter Teile der freiheitlichen Wählerschaft endete. Nunmehr aber scheint sie wohl nur mehr unter umgekehrten Vorzeichen, nämlich unter freiheitlicher Kanzlerschaft möglich. Kurz und Kollegen müßten wohl oder übel – glaubt man den Umfragen – den Juniorpartner geben. Eine solche Zweiervariante unter blauer Führung wäre – sollte sie sich über längere Zeit halten – zweifellos das Ende des rot–schwarzen Proporzsystems im Lande. Einen inhaltlichen Paradigmenwechsel würde sie wohl nicht nach sich ziehen, da dieser schon jetzt in weiten Bereichen vorweggenommen zu werden scheint. Zentrale freiheitliche Forderungen, wie etwa die Beschränkung der sozialen Transferzahlungen auf Staatsbürger und eine restriktive Zuwanderungspolitik bis hin zur „Minuszuwanderung“, solche Forderungen werden jetzt von der rot–schwarzen Regierung in ihrer Verzweiflung vorweggenommen. Ebenso wie die eine oder andere zentralistische Lenkungsmaßnahme aus Brüssel, der sich bereits jetzt Werner Faymann mit geringer Glaubwürdigkeit – allerdings mit Applaus aus dem Boulevard – entgegenzustellen scheint. EU-Sanktionen wie im Jahre 2000 brauchte Österreich in einem solchen Fall jetzt nicht mehr zu fürchten.
Nationalkonservative Regierungen wie in Polen, in Ungarn und in Kroatien, aber auch linkspopulistische wie in der Slowakei würden dem gewiss ihre Zustimmung verweigern. Und die Solidaritätswelle, die jene immer stärker werdenden als „rechtspopulistisch“ abgestempelten Kräfte erfassen würde, die von Frankreich über Deutschland bis hin nach Italien zunehmend anwachsen, diese Solidaritätswelle hätte es auch in sich. Der italienische Lega-Nord-Chef Matteo Salvini, Front National-Präsidentin Marine Le Pen und UKIP-Chef Nigel Farage würden sich ebenso wie Frau Petry die Türklinke in einem von Strache besetzten Kanzleramt reichen. Österreich wäre also in einer freiheitlich geführten Bundesregierung längst kein europäischer Sonderfall mehr. Sehr wohl allerdings dürfte es zu einer Verschärfung des innenpolitischen Klimas kommen.Die seinerzeitigen Donnerstags-Demonstrationen gegen die Schüssel-Haider-Regierung könnten fröhliche Urständ feiern, wenn die Grünen in der linken Reichshälfte zur dominierenden Kraft würden. Wie weit es zu sozialen Spannungen käme, ist wohl fraglich.
Die herkömmliche Sozialpartnerschaft würde aber durch den neuen Links-Rechts-Antagonismus zweifellos leiden. Die genuine Verbindung mit dem rot–schwarzen Proporzsystem würde zwangsläufig dazu führen, dass die Sozialpartnerschaft ebenso wie der rot–schwarze Proporz seine bestimmende Funktion für die politische Landschaft in der Republik verlöre. Damit stünde die freiheitliche Sozialpolitik allerdings vor der Nagelprobe, wie weit sie in der Lage wäre, hier Ersatz zu schaffen.
Was die metapolitische Ebene und die Identität einer solcherart veränderten Republik beträfe, so müssten es keineswegs nur Rückgriffe auf nationalkonservative und patriotische Versatzstücke sein, die hier dominieren würden. Eine sich solcherart erneuernde Republik könnte vielmehr eine gewisse postmoderne Identität entwickeln, wie etwa die kleineren und mittel- und osteuropäischen Nationen nach dem Zusammenbruch des Kommunismus nach 1989: In Form der Bewahrung und Wiederentdeckung des Eigenen, der kleinräumigen Heimatbereiche in Verbindung mit weltoffener Vernetzung und HightechÖkonomie. Das kleine Wirtschaftswunder der baltischen Staaten, das bayrische Motto „Laptop und Lederhose“, die Schweizer direkte Demokratie, solche Modelle könnten hier Platz greifen. Nach der geradezu sklerotischen Politik der ausgehenden Ära der Zweiten Republik könnten die Verwerfungen rund um die Hofburg-Wahl, die wir gegenwärtig erleben, auch einen Neuaufbruch für das Land zeitigen. Bei einigem Optimismus …