Europas „Bloodlands“

28. April 2022

Von Schlachtfeldern und Friedensregionen (I. Teil)

Europas Geschichte, der Werdegang des Abendlandes durch mehr als zweieinhalb Jahrtausende, ist nicht zuletzt eine geradezu chaotische Abfolge von kriegerischen Auseinandersetzungen, von mörderischem Völkerringen, von der blutigen Austragung von Erbfeindschaften und damit auch eine Geschichte von Schlachtfeldern. Von Marathon, wo die Athener Hopliten gegen die persischen Eindringlinge kämpften, bis Verdun, wo Deutsche und Franzosen einander mit Giftgas im Grabenkrieg massakrierten, vom den Katalaunischen Feldern, wo die Einheiten des Aetius die Hunnen des Attila bekämpften, bis zum Winter von Stalingrad, wo die deutsche Sechste Armee erfror, vom jüdischen Masada, das die Legionen des Titus belagerten bis zum ukrainischen Mariupol unserer Tage: Blutgetränkte Schlachtfelder, „bloodlands“ eben, bilden die Stationen dieser europäischen Geschichte.
Natürlich gibt es neben dem Völkerringen, neben dem Wirken machtgieriger Fürsten und blutrünstiger Feldherren auch die Kulturgeschichte Europas. Und es gibt die Sozialgeschichte, das Leben der kleinen Leute. Natürlich hat die historische Entwicklung zahlreiche andere Facetten, für die die Schlachtfelder eine untergeordnete Rolle spielen. Angesichts der Tatsache aber, dass der Krieg in unseren Tagen nach Europa zurückgekehrt ist, dass das, was wir alle längst nicht mehr für möglich gehalten haben, nämlich Krieg in der unmittelbaren Nachbarschaft, schreckliche Realität geworden ist, drängt sich der Blick auf eben jene Schlachtfelder wieder auf.
Gleichzeitig aber sehen wir uns mit der Frage konfrontiert, ob und wie es möglich ist, aus diesen „bloodlands“, die es quer durch die Jahrhunderte und quer durch Europa gibt, Friedensregionen zu machen, Bereiche, in denen einst verfeindete Völker und Kulturen friedlich und fruchtbar miteinander zusammenleben. Gerade für den Bereich der Ukraine, der mehrmals in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten zum Schlachtfeld wurde, stellt sich die Frage, ob es dafür auch eine Friedensperspektive geben kann. Und die Beispiele einstiger „bloodlands“, in denen genau eine solche Entwicklung möglich wurde, etwa die Konfliktlinie zwischen Deutschen und Franzosen oder der Beriech des Balkans zwischen Alpen-Adria und Donau, zwei Großregionen, die ebenfalls in den vergangenen Jahrzehnten und Jahrhunderten mehrmals Schlachtfeld waren, können hier Hoffnung spenden.
Tatsächlich waren es ja drei europäische Großregionen, die in den Jahrzehnten von 1914 bis zum heutigen Tag solche zentrale „bloodlands“ in Europa waren. Der Überschneidungsbereich zwischen den Jahrhunderte als Erbfeinde agierenden Deutschen und Franzosen westlich des Rheins auf der einen Seite andererseits die Balkanregion von den Alpen und der Adria bis hin zur Donau und dem Schwarzen Meer: Dort, wo seit der Spätantike der byzantinisch-oströmische Bereich an das Abendland grenzte, dort, wo später das Osmanische Reich auf den Machtbereich der Habsburger stieß. Und schließlich ist da noch jene Großregion in Osteuropa, die wie heute die Ukraine zum zentralen Kriegsschauplatz sowohl im Ersten als auch im Zweiten Weltkrieg werden sollte und es in den Tagen des russischen Angriffskriegs wieder geworden ist. Drei blutige, mit Millionen von Toten gedüngte Schlachtfelder, von denen zwei zuallererst nach dem Zweiten Weltkrieg, jenes zwischen Deutschen und Franzosen, Jahrzehnte später um die Jahrtausendwende der Balkan – und das noch nicht endgültig – zu Friedensregionen wurden. Und schließlich jenes zwischen Bug und Dnjepr, das heute wieder massenhaft vom Blut der Russen und Ukrainer gedüngt wird.

Das Schlachtfeld der deutsch-französischen Erbfeinde:
Links und rechts des Rheins verläuft seit der Römerzeit eine Grenze zwischen Machtblöcken, beziehungsweise zwischen Völkern. Seit den Tagen Julius Cäsars bildete der Rhein die Grenze zwischen der römischen Welt und den germanischen Stämmen. Die Schlacht von Mühlhausen, als Cäsar Ariovist besiegte, vier Jahrhunderte später die Schlacht auf den Katalaunischen Feldern, sie sind Beispiele dafür, dass der große Strom und sein Umland seit der Antike Stätte mörderischen Ringens waren. Im Mittelalter dann das Ringen zwischen den römisch-deutschen Kaisern und dem französischen Königshaus. In den Tagen Ludwig des XIV. zeigen dies die französischen Raubkriege, danach die Auseinandersetzung zwischen Habsburgern und Franzosen im bayrischen Erbfolgekrieg, später die Napoleonischen Kriege. Diese deutsch-französische Erbfeindschaft, die lange eine habsburgisch-französische war, fand ihre Höhepunkte dann im Krieg von 1870/71 und schließlich in den beiden Weltkriegen. Die sogenannte Westfront zwischen 1914 und 1918 wurde zur Stätte eines beispiellosen Volkermordens, des Grabenkrieges zwischen Flandern und dem Elsass. Und die Festung Verdun wurde zum Symbol mörderischer Auseinandersetzungen zwischen Deutschen und Franzosen. Der Frankreichfeldzug von 1940 und schließlich der alliierte Vorstoß nach der Landung in der Normandie in den Jahren 1944 und 45 stellten dann den letzten Akt des Geschehens auf diesem großen Schlachtfeld zwischen Deutschen und Franzosen dar.
Dass aus diesem großen zentraleuropäischen Schlachtfeld in der Folge nach dem Zweiten Weltkrieg doch eine Friedensregion werden konnte und damit so etwas wie ein Zentrum der europäischen Integration, die in die heutige Europäische Union mündete, grenzt an ein historisches Wunder. Auch wenn es uns heute selbstverständlich erscheint, war die Entwicklung hin zu dieser Friedensregion, die von der Schweiz bis hinauf zu den Beneluxstaaten reicht, alles andere als selbstverständlich. Die deutsch-französische Versöhnung und schließlich die Freundschaft zwischen beiden Völkern, getragen durch das Wirken von Männern wie Charles de Gaulle, Konrad Adenauer und Robert Schuman ist vielleicht die Frucht der Erschöpfung nach zwei mörderischen Weltkriegen. Sie stellte aber auch so etwas wie ein Musterbeispiel historischer Vernunft dar. Diese Vernunft hat den beteiligten Regionen, Völkern und Menschen Freiheit, Frieden und Wohlstand beschert, war im Lauf einer mehr als zweitausendjährigen Geschichte wohl einmalig ist.

Das Schlachtfeld an der Südflanke Europas am Balkan:
Die Balkanhalbinsel, die europäische Großregion zwischen Alpen-Adria und Donau und Schwarzem Meer stellt so etwas wie den weichen und gefährdeten Unterbauch Europas dar. Zwar bildete die Südspitze der Balkanhalbinsel, die hellenische Welt, eine der Heimstätten Europas, die sich bereits in vorchristlicher Zeit gegen Asien, ganz konkret gegen das Perserreich zu behaupten hatte. Aber bereits dann in römischer Zeit wurde der Balkan zur Grenze und damit zum Überschneidungsbereich zwischen Ost und West. Die Teilung des Römischen Reichs in Ost- und Westrom zog die Grenze auf dem Balkan und dieser wurde dann in der Völkerwanderung zum Einfallstor germanischer Stämme. Die Spaltung des Christentums in Orthodoxie und Katholizismus machte den Balkan auch zum konfessionellen Grenzraum und damit einmal mehr zur Stätte kriegerischer Auseinandersetzungen.
Nach der Eroberung Konstantinopels durch die Türken und dem Vordringen der Osmanen bis vor die Tore Wiens wurde der Balkan Jahrhunderte lang zum Schlachtfeld zwischen dem christlichen Abendland und den islamischen Heeren des Sultans. Nach der Rückgewinnung dieses Raumes, insbesondere durch den habsburgischen Feldherrn Prinz Eugen von Savoyen, wurde dieser befreite Raum aber keineswegs zur Friedensregion, sondern blieb die Stätte mörderischer Auseinandersetzungen zwischen den Balkanvölkern.
Die Balkankriege des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der Erste Weltkrieg und schließlich der Zweite Weltkrieg, der Partisanenkrieg und die Kriege nach dem Zerfall Tito-Jugoslawiens machten den Balkan zu einem blutgetränkten gewaltigen Schlachtfeld. Ein Schlachtfeld, das im 19. Jahrhundert durch die Kriege des sich einigenden Italiens gegen Habsburg seine Ausläufer bis in die Poebene fand.
Der Höhepunkt dieses kriegerischen Massenmordens auf dem Balkan war zweifellos der Erste Weltkrieg mit dem Ringen in den Isonzoschlachten. Hunderttausende Tote in einem grausamen Gebirgskrieg bleiben bis zum heutigen Tag Zeugen eines sinnlosen Völkerschlachtens. Der Zweite Weltkrieg mit dem deutschen Balkanfeldzug und dem darauffolgenden Partisanenkrieg und dem Ringen schließlich zwischen Roter Armee und Deutscher Wehrmacht bis Kriegsende, aber auch die Kriegsereignisse an der italienischen Front in den Jahren 1944 und 45 bildeten schließlich einen weiteren Höhepunkt dieses Schlachtens.
Dass dann aus dem nordwestlichen Teil dieser Großregion, nämlich aus der Alpen-Adria-Region, bis in unsere Tage eine modellhafte Friedensregion werden konnte, ist nahezu noch erstaunlicher als die zuvor zitierte deutsch-französische Aussöhnung. Dies deshalb, da hier am Schnittpunkt zwischen slawischer, germanischer und romanischer Welt mit Tito-Jugoslawien bis in die 80er Jahre des 20. Jahrhunderts eine kommunistische Diktatur existierte und so zusätzlich zum Antagonismus zwischen den Balkanvölkern und der klerikalen Spaltung zwischen Orthodoxie und Katholizismus noch die ideologische Kluft zwischen Kommunismus und den westlichen Demokratien kam.
Der Ausgleich zwischen Italienern und Österreichern, der über lange Jahrzehnte durch den Konflikt um Südtirol behindert worden war, mündete sehr bald nach dem Zweiten Weltkrieg in friedliche und freundschaftliche Beziehungen. Zwischen Friaul Julisch-Venetien, der Lombardei, dem Trentino, Tirol, Kärnten und der Steiermark bildete sich so sehr bald der Kern einer Friedensregion, die erst nach dem Tod Titos und dem Zerfall Jugoslawiens um Slowenien und die nordwestlichen Bereiche Kroatiens erweitert werden konnte. Historische Nationalitätenkonflikte, wie etwa jener zwischen Kärntner Slowenen und der Deutschkärntner Mehrheitsbevölkerung waren dabei Hemmnisse, die es zu überwinden galt. Ebenso aber auch der Streit zwischen Slowenen und Kroaten beispielsweise um die Hoheitsgebiete an der Adriaküste, oder der alte und vielschichtige Konflikt um Triest. Und das Erbe dieser indessen meist historisierten Streitigkeiten wirkt natürlich subkutan nach und bedarf immer wieder des gemeinsamen Bemühens und der gemeinsamen Aufarbeitung, um nicht wieder aufzubrechen. Dennoch ist diese Alpen-Adria-Region, die noch vor einem guten Jahrhundert Stätte der blutigsten Schlachten des Ersten Weltkriegs war, heute das Modell einer multinationalen grenzüberschreitenden Friedensregion.
Im südlichen Bereich dieser europäischen Großregion, dem Balkan eben, stehen die Dinge allerdings noch anders. Zwar konnte die zentrale Auseinandersetzung nach dem Zerfall Tito-Jugoslawiens, der Krieg zwischen Serben und Kroaten beigelegt werden und die Serben durch den Einsatz der NATO und US-Amerikas zur Aufgabe ihrer großserbischen Ambitionen gezwungen werden, Frieden und Verständigung herrschen deshalb aber längst noch nicht. Mit Bosnien-Herzegowina besteht ein Staatswesen, dessen innere Zerrissenheit im Konflikt zwischen Bosniaken, Serben und Kroaten längst nicht überwunden ist. Mit dem Kosovo ist ein zusätzliches Staatswesen entstanden, das Belgrad offenbar nicht akzeptieren kann. Und mit Montenegro und mit Nordmazedonien existieren zwei weitere Kleinstaaten, die die Zerrissenheit des Balkans, des ehemaligen Jugoslawiens, deutlich machen.
Albanien ist auch kein Garant für Stabilität, und eine zeitnahe Zukunftsperspektive im Hinblick auf einen EU-Beitritt ist für den Westbalkan noch immer nicht wirklich absehbar. Slowenien und Kroatien allerdings sind nicht zuletzt durch den EU-Beitritt stabilisiert und eben damit in der Lage, Teil der vorhin zitierten Friedensregion zu werden. Ebenso steht es natürlich im Falle Bulgariens und Rumäniens. Beides Länder, die nach wie vor unter den postkommunistischen Defiziten in ökonomischer und gesellschaftlicher Hinsicht leiden, die aber durch die EU-Mitgliedschaft und den Beitritt zur NATO in ein relativ ruhiges Fahrwasser zu gelangen vermochten. Natürlich gibt es in diesem Bereich des östlichen Balkans nach wie vor gewaltige Nationalitätenprobleme. Die große Anzahl ethnischer Ungarn in Rumänien, in Siebenbürgen, die türkische Minderheit in Bulgarien und insgesamt am Balkan, die von den Golfstaaten, aber wohl auch von der Türkei betriebene Re-Islamisierung weiter Bereiche, insbesondere in Bosnien, stellen Gefährdungen für die Stabilität dieser Region dar und lassen das Entstehen einer Friendensregion in ferne Zukunft rücken.
Dennoch scheint die unmittelbare Gefahr neuer Balkankriege weitestgehend gebannt zu sein. Serbien, jene Nation am Westbalkan, die sich gekränkt fühlen muss, die weite Teile ihrer Landsleute außerhalb der Landesgrenzen sieht, verharrt zwar in panslawischer Sympathie mit Russ­land, der Beitritt zur Europäischen Union dürfte es aber verhindern, dass damit wieder neuerlich großserbische Ambitionen zutage treten könnten. Die Aufsplitterung des ehemaligen Jugoslawiens in ein halbes Dutzend miteinander konkurrierender Kleinstaaten könnte wohl nur durch den EU-Beitritt überwunden werden. So wie es zwischen Slowenien und Kroatien kam, die anfangs nach der neuen Selbständigkeit noch große Gegensätze hatten, könnten auch für die anderen postjugoslawischen Staaten durch den EU-Beitritt Gemeinsamkeit und nachbarliche Beziehungen gefunden werden. Ob dadurch zumindest in fernerer Zukunft so etwas wie eine Friedensregion entstehen könnte, wie sie im Alpen-Adria-Raum zur erfreulichen Tatsache geworden ist, bleibt allerdings abzuwarten.


Europas Rechte: Gemischte Gefühle

28. April 2022

Der letzte Sonntag im April war für die europäischen Freiheitsparteien, für die Patrioten, kein wirklich guter Tag: Marine Le Pen konnte ihren Anspruch auf den Präsidentensessel nicht umsetzen und Sloweniens rechter Regierungschef Janez Jansa wurde abgewählt. Zwei führende Politiker der patriotischen Bewegungen Europas hatten also empfindliche Niederlagen einzustecken. Oder etwa doch nicht so ganz? Marine Le Pen hat immerhin mehr als 40 Prozent der Wähler für sich vereinnahmen können, ein Ergebnis, das in Frankreich ein Vertreter des einstigen Front National, des jetzigen Rassemblement National, bislang noch nicht hatte erzielen können. Ein Ergebnis, das auch für die kommenden Parlamentswahlen erheblich bessere Chancen einräumt, als ihre Partei bisher hatte. Und Janez Jansa mit seiner nationalkonservativen Partei SDS hatte schon mehrmals Niederlagen einzustecken und musste nach kurzer Zeit doch immer wieder ausrücken, um Slowenien als Regierungschef zu retten. Eine Entwicklung, die auch jetzt nicht auszuschließen ist, da das junge Wahlbündnis der Freiheitspartei vielleicht schon in Kürze auseinanderbrechen könnte. So sieht es also in Frankreich und in Slowenien für die europäische Rechte entgegen dem ersten Anschein gar nicht so schlecht aus. Insgesamt befinden sich die Rechtsparteien aber in einem Dilemma, und zwar wegen des Ukrainekriegs. Gerade schien es auf der Ebene des Europäischen Parlaments so, als könnten sich die in verschiedenen Blöcken organisierten Rechtsparteien einigen und damit eine der größten Fraktionen auf europäischer Ebene bilden, doch nun sehen sie sich durch ihre Haltung zu Russland und zum Ukrainekrieg wiederum massiv auseinander dividiert.
Konkret sind es vor allem die Polen, das heißt also die PiS-Partei und die ungarische Fidesz von Orbán, die hier höchst entgegengesetzte Haltungen einnehmen. Die Polen fürchten, ja hassen die Russen, die Ungarn haben zu Putin und damit zu Russland ein gedeihliches Verhältnis. Sie tragen auch die gegenwärtigen EU-Sanktionen nicht mit. Auch der Partei Marine Le Pens wird allzu große Russlandnähe nachgesagt, sie konnte einen ihrer vergangenen Wahlkämpfe nur mit Hilfe eines Kredits einer russischen Bank finanzieren.
Nebenbei bemerkt: Dass Macron mit Putin sogar einmal gemeinsam Urlaub machte, spielt da offenbar keine Rolle. Und auch der FPÖ wird vorgeworfen, zu den „Putin-Verstehern“ zu gehören.
Und so ist es wieder einmal eine traurige Tatsache, dass die patriotischen Freiheitsparteien Europas sich auf Grund der verschiedensten, zumeist historisch bedingten Gegensätze nicht auf eine gemeinsame Linie einigen können.
Sie, die so etwas wie die politische Notwehr der europäischen Völker gegen Globalisierung und den Brüsseler Zentralismus darstellen, können dadurch die eigentlichen historischen Verantwortung, nämlich der Rettung eben dieser europäischen Völker, nicht gerecht werden. Ein Trauerspiel.


Putin, Nehammer und die Bodyguards

13. April 2022

Da ist der österreichische Bundeskanzler also tatsächlich nach Moskau geflogen, um Wladimir Putin, dem Herrn im Kreml, die Leviten zu lesen. Einen sofortigen Waffenstillstand wollte er vom russischen Präsidenten verlangen und natürlich wollte er ihm die – vorläufig nur mutmaßlichen – Kriegsverbrechen vorhalten. Und so ist Karl Nehammer, Oberleutnant der Reserve und wohl damit neuerdings kundiger Militärexperte in Begleitung von zwei Bodyguards nach Moskau geflogen. Und wir wissen natürlich über den genauen Inhalt der Gespräche nicht wirklich bescheid, wir müssen uns da auf die offiziellen Verlautbarungen der beiden Gesprächspartner verlassen und diese sind im gewohnt diplomatischen Ton gehalten. Von „offen“ und „konstruktiv“ war da natürlich die Rede.
Österreichs Bundeskanzler hat seinen Besuch dem Vernehmen nach mit den EU-Granden, mit Scholz, mit Macron und mit der Kommissionspräsidentin Von der Leyen natürlich abgesprochen, was diese sich gedacht haben, können wir auch nur mutmaßen. Die Reaktionen dürften von Verwunderung bis Sprachlosigkeit gereicht haben oder auch bis zu homerischem Gelächter. Aber viele werden wohl zur Ansicht gekommen sein, dass sich da einer ziemlich überschätzt.Auch seriöse Kommentare in den heimischen Gazetten kamen zur Ansicht, dass man sich nicht recht erklären könne, warum der österreichische Regierungschef plötzlich zwischen Kiew und Moskau pendelt. Ob er auf den Spuren Kreiskys wandeln wolle, der tatsächlich in weltpolitischen Fragen das eine oder andere Mal als Vermittler auftrat? Oder ob er von seiner Body­guard-Affäre ablenken wollte, oder auch nur realistischerweise der österreichischen Abhängigkeit vom russischen Gas Rechnung trug? Wir wissen es nicht. Genau so wenig wissen wir nicht, wie sehr sich Wladimir Putin gefürchtet hat vor dem Besuch des Österreichers und vor dessen moralisch erhobenem Zeigefinger in punkto Kriegsverbrechen. Grund zur Sorge dürfte er jedenfalls gehabt haben wegen der beiden Bodyguards, die den Bundeskanzler angeblich begleitet haben. Die Kunde dürfte nämlich sogar nach Moskau gedrungen sein, dass mit den Bodyguards des Bundeskanzlers nicht zu scherzen ist – zumindest was das Saufen betrifft. Und da kennen wir ja schon die Mär aus den Zeiten der Staatsvertragsverhandlungen, wo Raab und Figl als trinkfeste Nieder­österreicher den russischen Verhandlungspartnern in Sachen Wodkakonsum kaum nachstanden.
Vielleicht hat sich Nehammer, der auch Niederösterreicher ist, daran erinnert und er wollte mit Wladimir bloß das eine oder andere Glas Wodka heben. Den österreichisch-russischen Beziehungen hat er damit jedenfalls sicher genützt. Nur gerade dieser Faktor wird gegenwärtig auf dem internationalen Parkett ja nicht sonderlich geschätzt.


Vom Ende des Christentums

13. April 2022

Europa ist längst ein gottloser Kontinent

Die Kirchen in Europa sind leer. Zwar sind die Kathedralen, die wehrhaften romanischen Kaiserdome am Rhein, die gotischen Leuchttürme Gottes von Reims und Chartres, von Ulm und St. Stephan in Wien, nach wie vor vorhandene Zeugen von der Kraft des Christentums. Sie zeugen aber nur von einer vergessenen Spiritualität, so wie die Paläste Versailles, der El Escorial, Schönbrunn vom einstigen Glanz einstiger Monarchen sprechen, so eben diese Dome von der einstigen Bedeutung des Christentums.
Doch heute hat Jesus Europa, das alte, ehemals christliche Abendland offenbar verlassen. Möglich, dass er bisweilen noch in Polen und in Kroatien präsent ist, ansonsten aber ist dieses Christentum zwar noch ein Faktor, der gewissermaßen als kultureller Unterbau den Jahreslauf und auch den Lebenslauf der Menschen bestimmt. Die christliche Lehre insgesamt, die Katholische Kirche mit ihren Dogmen, ist nur mehr eine geradezu verdrängte Erinnerung. Die Dreifaltigkeit mitsamt Gottvater, dem Sohn und dem Heiligen Geist, die Auferstehung, der jüngste Tag, das Paradies, die Engel und schließlich Satan und die Hölle, das Fegefeuer, all dies sind religiöse Postulate, an die kaum mehr jemand in Europa zu glauben vermag.
Zwar ist mit der Orthodoxie im Osten, in der slawischen und christlichen Welt noch eine Sonderentwicklung vorhanden, die in den postkommunistischen Staaten noch einmal Wirkmächtigkeit zu entfalten vermochte. Das Lutheranertum, der Protestantismus, ist längst zur politisch korrekten Lebenshilfe-Organisation verkommen. Die römische Kirche taumelt von der Aufarbeitung eines Missbrauchs-Skandals zum nächsten, und der emeritierte bayerische Papst ist längst entrückt, während sein argentinischer Nachfolger mittels platter Signale vorgeblicher Bescheidenheit nur dem Zeitgeist hinterher hechelt.
Und so ist das Christentum, allzumal das römisch-katholische, längst einer politisch korrekten Zivilreligion gewichen, in der Cancel Culture und Wokeness wichtiger sind als die zehn Gebote. Und vormals sich christlich nennende politische Parteien haben das „hohe C“ bei ihrem Namen längst verdrängt und die christliche Sozialllehre auf dem Altar eines spätlinken Zeitgeists geopfert.
Was war dieses Christentum einst? Ursprünglich wohl so etwas wie eine jüdische Sekte in der Nachfolge eines legendenumwobenen Messias, die dann erst von Paulus, dem römischen Bürger, zur Kirche gemacht wurde, die den Anspruch erhob, allen Menschen zugänglich zu sein. Dieses Christentum war in der Nachfolge des Judentums natürlich eine monotheistische Religion. Eine Religion aber, die noch in den ersten Jahrhunderten ihres Bestehens mit Spaltungen, Glaubensstreit, Schisma und vielfältigen Konflikten eine Religion mit der Dreifaltigkeit, mit Engeln, mit zahllosen Heiligen, mit kultisch verehrten Gegenständen, Bildern, Reliquien und ähnlichem wurde. Eine Religion, deren jüdische Wurzeln mit den Mechanismen der römischen Staatsreligion und nach der Völkerwanderung mit germanischen spirituellen Vorstellungen angereichert wurde, eine Religion, die solcherart für die romanische, die germanische und die slawische Welten Europas zum zentralen geistigen und spirituellen Faktor wurde.
Und im Namen dieser Religion wurden Millionen Menschen gemetzelt, wurden Ströme an Blut vergossen, wurden Glaubenskriege geführt, Hexen verbrannt und Ketzer verfolgt. Die Christianisierung Alteuropas mag ein Bekehrungsprozess gewesen sein, begleitet wurde dieser aber von Blutbädern sonder Zahl. Die Kreuzzüge des Hochmittelalters mögen im Kampf um die Befreiung des Grabes Christi geführt worden sein, sie waren auch mörderische Eroberungskriege. Die Religionskriege des 16. und 17. Jahrhunderts bis hin zum Dreißigjährigen Krieg dezimierten die Bevölkerung Europas in ähnlichem Maße wie die Pest.
Dennoch, das Christentum als monotheistische Religion, deren zentrales Gebot die Nächstenliebe ist, war wohl der maßgebliche Faktor einer Entwicklung, die man als kulturelle Evolution, als Ansporn für die christlich geprägte Menschheit, der Gewalt zu entsagen, definieren kann. Und heute, da die universalen Menschenrechte theoretisch im Mittelpunkt der neuen Zivilreligion stehen, muss gesagt werden, dass auch diese ohne den Anspruch des Christentums, wonach alle Menschen mit der gleichen Würde geboren seien, Kaiser, König, Edelmann, Bürger Bauer, Bettelmann, Sklave die Basis dafür darstellt.
Nun scheint es so, als stünde dieses Christentum im alten Europa vor seinem Ende. Gewiss, in diesen Tagen wird auch in unseren Tagen das Osterfest begangen, mit allerlei folkloristischen Weihwerk, vom Osterhasten, den Ostereiern, bis hin zur Kärntner Fleischweihe, und dennoch muss die Frage gestellt werden, wer dabei noch an die Auferstehung Christi, an die Himmelfahrt und an das dem jeweiligen Individuum bevorstehende Jüngste Gericht denkt. Der argentinische Papst in Rom mag da die Füße irgendwelcher Obdachloser waschen, und seinen Segen Urbi et orbi mögen viele Millionen Menschen via Bildschirm mitbekommen, bedeuten tut all dies kaum etwas.
Vielleicht ist das Christentum längst zu einer Religion der Dritten Welt geworden, die in Schwarzafrika, in Lateinamerika und vielleicht sogar in Teilen Südostasiens eine Rolle spielt. Dass der Papst ein Lateinamerikaner ist, trägt dem ja Rechnung. Konsequenter Weise sollte man allerdings auch den Sitz des Kirchenoberhaupts nach Schwarzafrika oder nach Lateinamerika verlegen und aus dem Vatikan ein einziges Museum machen.
Tatsache ist jedenfalls, dass die Europäer das Christentum vergessen, wenn nicht gar verdrängt haben. Zwar lässt man seine Kinder taufen und bemüht einen Geistlichen bei Eheschließungen und Begräbnissen, begeht das Weihnachtsfest und wie schon erwähnt das Osterfest. Die spirituelle Bedeutung all dessen aber ist längst in hohem Maße in den Hintergrund gerückt. Stattdessen gibt es in den zeitgeistigen Kreisen eben die neue Zivilreligion der Political Correctness mit all ihren Begleiterscheinungen wie dem Plicht-Antifaschismus, dem radikalen Feminismus, das Gendern und neuerdings eben mit Wokeness, Cancel Culture und Black Lives Matter und ähnlichem Irrsinn.
Jene Bereiche der ganz normalen Menschen, an denen diese Moden des Zeitgeists eher vorübergehen, sind deswegen allerdings auch kaum mehr Christen im wahrsten Sinne des Wortes, sie sind vielmehr Teil einer absolut materialistischen Kultur, die einerseits wirtschaftlichen Wachstumsfetischismus lebt, andererseits Hedonismus und sehr oberflächliche Selbstverwirklichung anstrebt.
Statt der ewigen Seligkeit im Jenseits strebt man die Maximierung des eigenen Wohlergehens im Diesseits an, und das Postulat der christlichen Nächstenliebe wird durch eine diffuse politisch korrekte Allerwelts- und Fernstenliebe ersetzt, die sich meist mit schönen Worten und Wohlmeinung begnügt. Der Anspruch, ein christliches Leben zu führen und ein guter Christenmensch zu sein, gilt als lächerlich und antiquiert, und mit dem Begriff Sünde oder gar der Vergebung der Sünden durch Beichte und Absolution verbindet die Menschen kaum mehr etwas. Und so muss man unter Beachtung all dieser Entwicklungen zum traurigen Schluss kommen, dass das Christentum in Europa wohl vor seinem Ende steht.


Butscha, Srebrenica, Katyn

7. April 2022

Dieser Tage erreichten uns Nachrichten von einem Massaker, das die abziehenden russischen Truppen in Butscha, einem Vorort von Kiew, verursacht haben sollen. Hunderte Leichen, vorwiegend von Männern, die angeblich auch gefoltert und dann mit Kopfschüssen hingerichtet wurden, seien in Massengräbern aufgefunden worden.
Die Vertreter der Ukraine, voran Kiews Bürgermeister Klitschko, sprechen von einem Genozid, also von geplantem und systematisch durchgeführtem Völkermord und die Erinnerung an vergleichbare historische Metzeleien, wie sie beispielsweise im bosnischen Srebrenica im Jahre 1995 und 1940 im ostpolnischen Katyn stattgefunden haben, werden wach.
Das Grauen, das solche Massaker beziehungsweise die Funde der Opfer verursachen, ist allgemein und weltweit. Dieses Grauen lässt sich natürlich auch trefflich zu Propagandazwecken missbrauchen. 1942 versuchten die deutschen Okkupanten nach dem Auffinden der Opfer von Katyn diese propagandistisch gegen das Sowjetsystem einzusetzen. Und nach 1945, immerhin bis 1990, verbreitete der Kreml die Mär, dass die Nationalsozialisten für das Katyn-Massaker verantwortlich seien.
Was wenig bekannt ist: Im Jahr 2010 gedachte Putin gemeinsam mit polnischen Politikern der etwa 8.000 polnischen Offiziere, die in Katyn ermordet wurden. Srebrenica im Jahr 1995 wiederum bleibt ein Kainsmal für die serbische Seite der jugoslawischen Zerfallskriege. Und zu Recht wurde der dafür verantwortliche serbische Befehlshaber Mladic vor einem internationalen Gericht zur Verantwortung gezogen.
Was nun in der ukrainischen Stadt Butscha wirklich geschehen ist, ob tatsächlich ein von oben befohlenes Massaker an Zivilisten stattgefunden hat, muss rasch und unter internationaler Aufsicht geklärt werden.
Der derzeit allgegenwärtige Christian Wehrschütz reagierte zutreffend auf die Nachrichten über Butscha, indem er meinte, eine solche objektive Klärung sei deswegen rasch und gründlich nötig, um keine Verschwörungstheorien aufkom­men zu lassen. Der Kreml weist jede Verantwortung für das Massaker von Butscha von sich, und die ukrainische
Seite spricht eben von Völkermord.
Sollten russische Militärs oder gar die oberste politische Führung tatsächlich ein solches Massaker befohlen beziehungsweise zu verantworten haben, wird man sie irgendwann einmal, so wie seinerzeit den Serben Mladic, vor ein internationales Kriegsverbrechertribunal stellen müssen, denn ein Kriegsverbrechen ist die gezielte und geplante Tötung von Zivilisten allemal. Und sollte die Verantwortung bis hinauf an die Kreml-Spitze reichen, wird der Name Butscha für Wladimir Putin selbst zum Kainsmal werden.
Butscha ist also ein Verbrechen, aber es ist noch mehr, es ist eine schreckliche politische Dummheit.
Zynisch gesprochen könnte man nämlich sagen, dass man der ukrainischen Seite einen größeren Gefallen von Seiten der Russen kaum hätte machen können. Die internationale Solidarität, die Hilfsbereitschaft und die konkrete waffentechnische, wenn nicht gar militärische Hilfe für die Ukrainer wird nämlich dadurch sprunghaft ansteigen und, die Russen stehen als Menschheitsverbrecher da – wenn, ja, wenn objektiv unter internationaler Aufsicht nachgewiesen wird, dass sie dieses Massaker tatsächlich geplant und durchgeführt haben.
Und eines sollte uns im nach wie vor friedlichen EU-Europa auch klar werden: Wer da geglaubt hätte, dass so etwas wie ein unblutiger Cyber-Krieg stattfände, mit präzisen Luftschlägen gegenüber ausschließlich militärischen Einrichtungen, der war naiv, der hat sich Illusionen gemacht. Krieg ist – gerade mit modernen Waffensystemen – brutal, grausam und blutig.
Und er betrifft keineswegs nur die kämpfende Truppe. Nein, er betrifft Zivilisten, Alte, Frauen und Kinder und er entfesselt das Böse im Menschen, die Fähigkeit zur Vergewaltigung, zur Folter und Mord.


Über unsere Zivilreligion

7. April 2022

Von politisch korrekten ­Dogmen, Kultstätten, Priestern und ­Abspaltungs-Sekten

Die Facetten jener Zivilreligion, die sich rund um den Begriff der political correctnes in den letzten Jahren und Jahrzehnten aufgebaut haben, sind mannigfaltig, ja nahezu schon unübersichtlich. Begonnen hat das alles mit dem Pflicht-Antifaschismus der Nachkriegszeit, im Zuge dessen die Kriegspropaganda der Sieger zu den Geschichtsbildern der Besiegten gemacht wurde. Die absolut notwendige und legitime Ächtung der NS-Herrenmenschenideologie mit ihrem Antisemitismus und Rassismus fand etwa in Österreich über das Verbotsgesetz Eingang in die Rechtsordnung, und in anderen europäischen Ländern wurden entsprechende Rechtsnormen gegen Verhetzung beziehungsweise Leugnung des Holocausts institutionalisiert.
Überdies aber nahm dieser Pflicht-Antifaschismus bald liturgische Formen an. Da entwickelten sich entsprechende Rituale, wurden Kultstätten begründet und es traten Hohepriester auf. Rituale wie etwa die Befreiungsfeiern in den diversen ehemaligen Konzentrationslagern, Kultstätten wie Holocaustdenkmäler in Wien und Berlin und Hohepriester, wie sie im Gefolge einstiger Nazijäger, wie es Wiesenthal war und schließlich Antisemitismus-Experten und Rechtsextremismus-Experten bis zum heutigen Tage sind. Diese Hochämter der Vergangenheitsbewältigung werden nach wie vor zelebriert, die Kultstätten sind sakrosankt und die einschlägigen Zeremonienmeister dürfen sich nach wie vor als vornehmste Repräsentanten des Zeitgeists empfinden.
Danach kamen dann die diversen emanzipatorischen Bewegungen in der Folge der 68er-Bewegung. Unter dem ideologischen Schutzmantel der Frankfurter Schule gab es dann die Anti-Vietnamkrieg-Bewegung, die Anti-Atom-Bewegung, die Bewegung gegen die NATO-Nachrüstung der frühen 80er Jahre, natürlich den Feminismus und schließlich die Begründung der ach so umweltbewegten Grün-Bewegung. Deren jüngster Ausläufer ist die Bewegung zum Zwecke des Klimaschutzes. Und während zu Beginn all dieser sich als emanzipatorisch verstehenden Bewegungen Transparenz, Toleranz und Liberalität gepredigt wurden, sind es längst eiserne Dogmen und sakrosankte Maximen, die in unseren Tagen das ideologische Gerüst all dessen bilden.
Zwar hat man gewisse Bereiche dieser emanzipatorischen Bewegungen wie etwa die Nutzung der frühkindlichen Sexualität und Pädophilie ad acta gelegt, dafür aber Homosexualität und Transsexualität in all ihren Facetten nahezu zum gesamtgesellschaftlichen Ideal erhoben.
Und dann kam da aus den gesegneten Gefilden des angloamerikanischen Raums das Phänomen der politischen Korrektheit. Ausgehend wohl von den Bestrebungen, jegliche Form des Rassismus zu tilgen, wurden hier die US-amerikanischen Universitäten zur Brutstätte von neuen Dogmen, auf welche Art und Weise der zeitgeistgerecht lebende Mensch sich zu verhalten habe. Was sich vordergründig als Schutz von gesellschaftlichen Minderheiten ausgab, wurde sehr rasch zum gnadenlosen Diktat für die Mehrheit der Bevölkerung und seit dem hetzt eine politisch korrekte Mode die nächste: Das Gendern in der Sprache, die „Black Lives Matter“-Bewegung, Wokeness, Cancel Culture und ähnlicher Unfug treffen – gefördert durch das weltweite Netz und die sozialen Medien – sehr rasch auch auf Europa und damit auch auf die Alpenrepublik und den deutschen Sprachraum über.
Neben Facebook, Twitter und ähnlichen Internetphänomenen waren und sind es die Mainstreammedien, die sich als treibende Kräfte dieser Phänomene erwiesen. Und dabei entwickelten die Träger dieser Bewegungen zunehmend sektenähnliche Verhaltensweisen. Da gibt es jeweils so etwas wie einen strengen Kodex, wie man zu formulieren hat, welches Verhalten an den Tag zu legen sei, was man sagen darf und was nicht, und – noch schlimmer – was man denken soll und was nicht.
Und natürlich treten mediale Sittenwächter auf den Plan, die Abweichler, also Ketzer gegen den jeweiligen Spiritus Rector, der entsprechenden Sekte scharf verurteilen und nach Möglichkeit auch bestrafen. Bis hin zu ganz realen Religions­kriegen, wie wir sie im 16. und 17. Jahrhundert zwischen Protestanten und Katholiken erlebten, ist da nicht weit.
Während das historisch gewachsene religiöse Bekenntnis, insbesondere im Bereich des Christentums, zunehmend schwindet beziehungsweise veräußerlicht wird, gewinnt die politisch korrekte Zivilreligion mit all ihren sektoiden Facetten offenbar an Gewicht. Es scheint so etwas wie eigene anthropologische Konstante zu sein, dass der Mensch Bindungen religiöser oder quasi religiöser Art braucht und auch sucht.
Und wenn die spirituellen Führer der herkömmlichen Religionsgemeinschaften versagen, gewinnen die Sektenprediger der neuen zeitgeistigen Zivilreligion an Terrain. Einen großen Unterschied gibt es allerdings zwischen den herkömmlichen Weltreligionen, insbesondere den monotheistischen, und der neuen politisch korrekten Zivilreligion: Erstere versprechen uns die ewige Glückseligkeit im Jenseits, letztere hingegen nur das Elend einer Existenz im Diesseits voller Dogmen, Vorschriften und sinnentleerter Regeln.