War das Corona-Jahr eine historische Wende?
Der Jahreswechsel hat für die Menschen etwas Mystisches an sich – trotz Knallerei, Sektkorken und Donauwalzer in Zeiten der alten Normalität, trotz der Friedhofsruhe in Zeiten des Lockdowns. Rückschau auf das vergangene Jahr und Ausblick auf das kommende. Janus, jener römische Gott des Anfangs und des Endes, jener Gott, der der ältesten und ursprünglichsten römischen Mythologie entspringt und im Gegensatz zu den anderen Göttern keine griechische Entsprechung hat, symbolisiert mit seiner Doppelgesichtigkeit diese Mystik des Jahreswechsels: Das Greisenantlitz, das in die Vergangenheit blickt und das Jünglingsgesicht, der Zukunft zugewandt.
Nun bedeutet „ianua“ auf Latein Tor, Tür oder Durchgang, und Janus symbolisiert damit die Dualität zwischen Leben und Tod, zwischen Schöpfung und Zerstörung, zwischen Zukunft und Vergangenheit, auch zwischen links und rechts, wenn man so will. Er ist somit auch der römische Gott der Türen und Tore, eben der Durchgänge und so ist dieser Janus somit gewissermaßen in seiner Doppelgesichtigkeit auch der Gott des Paradigmenwechsels.
Gerade nach dem annus horribile der Pandemie müssen wir uns nun legitimerweise wohl fragen, welche Art von Durchgang der heurige Jahreswechsel sein wird und ob das Coronajahr 2020 tatsächlich das Jahr eines welthistorischen Paradigmenwechsels war. Das Jahr eines grundlegenden Wandels in Hinblick auf unsere Werte, auf unsere Lebenseinstellung und auf die Rahmenbedingungen, unter denen wir dieses unser Leben gestalten.
Als Österreichs juveniler Regierungschef am Beginn der Pandemie die Floskel von der „neuen Normalität“ prägte, die uns nach der Bewältigung der Seuche drohen werde, hat er sich wahrscheinlich selbst nicht vorstellen können, in welchem Maße diese neue sich von der alten, von der herkömmlichen Normalität unterscheiden werde. Tatsächlich scheint jene Epoche, die nach dem Ende der bipolaren Weltordnung, nach dem Zusammenbruch des Ostblocks und des real existierenden Sozialismus sowjetkommunistischer Prägung im Jahre 1989 herrschte, nämlich die Epoche des Neoliberalismus, gepaart mit dem Glauben an den globalen Vormarsch der Demokratie westlicher Prägung, nunmehr ihr Ende zu finden.
Dieser Neoliberalismus mit seinem Glauben an Wettbewerb, Profit und Konsum und mit der damit verbundenen Technikgläubigkeit ist ja bereits vor den Tagen von Corona, insbesondere im Zuge der Debatte um die angesagte Klimakatastrophe, einer weltweiten Zukunftskepsis gewichen, einem Pessimismus mit subkutan apokalyptischer Orientierung. Der Glauben an die Kraft der Märkte und an ewiges Wirtschaftswachstum wurde dabei vom Streben nach Klimaschutz, nach Biodiversität und der Notwendigkeit, eben den Planeten als solchen zu retten, ausgehebelt. Nach der gewissermaßen automatischen Gestaltungskraft der Märkte ist nunmehr wieder die Regelungskompetenz des Staates gefragt. Und unsere freie Marktwirtschaft wird von einem System abgelöst, in dem Staatshilfen gepaart mit explodierenden Staatsschulden offenbar der einzige Rettungsanker zu sein scheinen.
Mit diesem Denken verbunden ist auch ein grundlegender Paradigmenwechsel im Hinblick auf die Rolle des Menschen in der Gesellschaft und im Staatsgefüge. Wenn es zuvor die sozusagen verantwortungslose Gier des Einzelnen war, welche dieses kapitalistisch-marktwirtschaftliches System angetrieben hat, so gilt es nun offenbar, die Menschen zu ihrem Glück und zu resilientem Verhalten zu bewegen – nötigenfalls auch zu zwingen. Dabei zeigt sich eine der großen, möglicherweise wirklich welthistorischen Veränderungen, die dieses Jahr mit sich gebracht hat: Wohlfahrt geht nämlich nunmehr zweifelsfrei in globalem Maßstab, insbesondere in den westlichen entwickelten Staaten vor Freiheit. Wohlfahrt im Sinne von Gesundheit und Wohlbefinden für möglichst alle, konkret im Sinne von Vermeidung von Infektionen durch das bösartige Coronavirus, geht vor Bürgerfreiheit, vor die Freiheits- und Grundrechte des Einzelnen.
Und daraus ergibt sich ein weiterer Paradigmenwechsel: Unsere demokratischen Systeme, die gereiften Demokratien in Europa und in den anderen westlichen Industriestaaten werden von einer Welle des politischen Paternalismus, der teilweise auch autoritäre Züge annimmt, überrollt. Die Einschränkungen von Grundrechten werden beinahe schon mit Polizeistaatsmethoden durchgesetzt, und der zuvor viel zitierte „mündige Bürger“ wird zum unmündigen Verordnungsbefolger degradiert.
Und dann gibt es da einen weiteren gewissermaßen soziologischen Paradigmenwechsel: Die „offene Gesellschaft“, wie sie nach den Vorstellungen Karl Poppers das Ziel hatte, die kritischen Fähigkeiten des Menschen freizusetzen und die Staatsgewalt möglichst soweit zu reduzieren, dass Machtmissbrauch nicht möglich wäre, diese offene Gesellschaft, die ja untrennbar mit der liberalen Demokratie und dem freiheitlichen Rechtsstaat verbunden ist, scheint schrittweise und schleichend ausgehöhlt zu werden.
Dies erweist sich nicht nur an den bereits erwähnten paternalistischen Vorgangsweisen der Regierenden und am Vormarsch eines – vorläufigen noch – sanften Polizeistaats, sondern auch in der im Zuge der Corona-Bekämpfung immer häufiger gewordenen Isolierung des Individuums beziehungsweise der Kleinfamilie. Der Rückzug ins Private, wie er in den Wochen des Lockdowns unumgänglich ist, da es „nur vier Gründe zum Verlassen der eigenen Wohnung“ gibt, bedingt diese Tendenz zur Isolierung. Und diesen Rückzug kennen wir ja auch am Beispiel historischer Phänomene, wie etwa des Biedermeiers, wo im Zuge des Metternichschen Polizeistaats der Bürger im Verschwiegenen und Privaten und im familiären Idyll sein Glück suchte.
Heute wird diese Isolierung durch die damit Hand in Hand gehende Digitalisierung entsprechend gefördert. Home-Working, Home-Office, Home-Schooling, Home-Wellness und natürlich Home-Entertainment, Entwicklungen bis hin zum Cyber-Sex sind es, die den Menschen als soziales Wesen aus seinen anthropologisch vorgegebenen Verhaltensweisen herausreißen. Jener Albtraum, den wir aus Science-Fiction Filmen kennen, wo pharmakologisch stillgelegte Individuen nur noch ein virtuelles Leben führen, lässt grüßen.
Diese zunehmende Isolierung des einzelnen Menschen, der seinen Alltag weitgehend vor den Bildschirmen seines Computers verbringt, ist aber in diesem Coronajahr zur flächendeckenden Realität geworden. Der Albtraum der Immobilienbranche, wonach große Konzerne kaum mehr Büroflächen brauchen werden, weil sie durch das Home-Office ersetzt werden, die Ängste von Kindern und Jugendlichen, die ihre Freunde nicht mehr treffen, weil ihr Alltag von Home-Schooling und E-Learning beherrscht wird und der drohende Bankrott der Kinounternehmen, deren Geschäft von Netflix, Sky und Prime Video übernommen wurde, ist längst Realität.
Und noch ein Kriterium unserer offenen Gesellschaft scheint in diesem Coronajahr ihr Ende gefunden zu haben: Die weltweite Mobilität im Bereich des Massentourismus. Ob im Zeitalter ständig wechselnder Grenzschließungen und restriktiver Quarantänebestimmungen für Reisende so etwas wie der Tourismus der vergangenen Jahrzehnte wiederaufleben kann, ist mehr als ungewiss. So ist die globale Kommunikation über Internet und Social Media in einem Maße intensiv und dicht geworden, dass die physische Mobilität offenbar nach und nach unnötig wird. Grenzüberschreitende Geschäftsreisen oder gar von einem Kontinent in den anderen für irgendwelche Konferenzen, sind längst unnötig geworden. Der Informationsaustausch übers Netz hat das persönliche Treffen, das persönliche Gespräch längst obsolet gemacht.
Von den weltweiten Reisebewegungen sind vorläufig nur jene der Armutsmigration aus den Entwicklungs- und Schwellenländern in Richtung der westlichen Industriestaaten übriggeblieben. Wie sich dieses zu erwartende Abnehmen der physischen Mobilität auf diese Migrationsbewegungen auswirken wird, ist auch alles andere als gewiss.
Möglicherweise also werden Historiker dereinst feststellen, dass in unseren Tagen eine wachstumsorientierte Wirtschaft, welche die Natur auf brutale Art und Weise vergewaltigte, gemeinsam wohl mit der globalen Bevölkerungsexplosion sowohl die Coronapandemie als auch die Klimakrise verursacht haben.
Und dass insbesondere die
Pandemie dann sozusagen die Schocktherapie für einen weltweiten Paradigmenwechsel darstellte. Einen radikalen Paradigmenwechsel, der dazu führte, dass Wohlfahrt vor Freiheit geht, dass die Reglementierung der Menschen vor demokratischer Partizipation geht, dass Meinungsfreiheit in vielen Bereichen einer Meinungsdisziplinierung weichen musste, um die Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimakatastrophe und der Coronapandemie durchzusetzen und dass letztlich die klassische offene Gesellschaft sich in eine digitalisierte Gesellschaft individueller Isolierung wandelte.
Der doppelgesichtige römische Gott Janus, der Gott des Endes und des Anfangs, der Gott des Durchgangs und, wenn wir so wollen – in zeitgenössischem Soziologen-Chinesisch –, der Gott des Paradigmenwechsels, stand aber auch für die Erkenntnis, dass alles Göttliche immer einen Gegenspieler in sich birgt. Wenn also das hier skizzierte Zukunftsszenario eher bedrückende Aussichten bietet, sei letztendlich auf den berühmten Vers aus Hölderlins Patmos-Hymne verwiesen: „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“.