Österreich-Patriotismus, Heimatgefühl und das Landesbewusstsein
Die „Weaner Bazi“, die mag man halt einfach nicht als Tiroler, als Steirer oder Kärntner. Und der Wiener „Wasserkopf“ war schon in der Ersten Republik ein Problem als einer Großstadt von nahezu zwei Millionen Einwohnern, der eine geschrumpfte Republik mit insgesamt sechs Millionen Einwohnern gegenüberstand. Und überhaupt: Die Länder gegen Wien, die Landeshauptleute gegen die Bevormundung durch die Bundesregierung und ein auf das jeweilige Bundesland bezogenes Heimatgefühl, welches unter Umständen viel stärker ist als jedes Österreichbewusstsein. Das ist das emotionale Substrat des österreichischen Föderalismus. Und tatsächlich sind die Bundesländer, die zuvor die Kronländer der Habsburger Monarchie waren, historisch gewachsene territoriale Einheiten mit größtenteils ehrwürdiger Tradition und nicht zu unterschätzenden Eigenheiten, welche bedeutende kulturelle Unterschiedlichkeiten begründen.
Das Kernland, die im Zuge des Hochmittelalters donauabwärts nach Osten hin wachsende babenbergische Ostmark, das spätere Herzogtum Österreich und danach Erzherzogtum Österreich, ist einerseits „unter der Enns“, also in Niederösterreich, von einer überdominanten Großstadt, nämlich der vormaligen habsburgischen Residenzstadt und nachmaligen Bundeshauptstadt Wien in gewisser Weise immer marginalisiert gewesen. Und „ob der Enns“, in Ober österreich also, war dieses Kernland immer sehr bajuwarisch geprägt, von der Mentalität und dem Dialekt her sehr dem benachbarten Bayern verbunden.
Wie im Übrigen auch Salzburg, das allerdings aufgrund seiner kirchlichen Sonderstellung und seines relativ späten Falls – erst vor 200 Jahren – an das Haus Österreich wiederum eine Sonderrolle spielt. Die Steiermark hingegen, das alte von den Traungauern regierte Herzogtum, die grüne Mark, war sehr früh mit den Habsburgern verbunden, um in der Folge mit dem etwas später, Mitte des 14. Jahrhunderts, erworbenen Herzogtum Kärnten als „Innerösterreich“ ein gewisses Eigenleben zu führen. Dies immer wieder im Zuge der habsburgischen Erbteilungen, zuerst im Spätmittelalter und dann noch einmal unmittelbar vor dem Dreißigjährigen Krieg, um dann unter dem Gegenreformationskaiser Ferdinand II. endgültig mit dem Erzherzogtum Österreich vereint zu werden.
Kärnten hingegen, das über eine noch ältere Tradition des territorialen und staatlichen Eigenlebens verfügt als die Steiermark, fi el erst unter Albrecht dem Weisen an das Haus Habsburg. Das uralte, alpenslawisch und bajuwarisch geprägte, aus der römischen Provinz Binnennoricum hervorgegangene Herzogtum mit seiner „windischen“ Tradition, den slawischen Einfl üssen in Mentalität, Brauchtum und Kulturleben, wurde indes unter der Herrschaft der Habsburger seit der Mitte des 14. Jahrhunderts insofern provizialisiert, als es nie mehr aus dem Lande heraus selbst regiert wurde. Die spätestens seit Kaiser Maximilian zu konstatierende Sonderrolle der Kärntner Landstände aber – vor 500 Jahren schenkte er ihnen die nachmalige Landeshauptstadt Klagenfurt – und ein eigenwilliges, eben auch slawisch beeinfl usstes Landesbewusstsein, blieben trotz dieser „Fremdbestimmung“ und Regierung von außen, von Graz oder Wien, kurzeitig auch von Laibach aus, ein starker Faktor, ein Faktor, der ein eigenes Landesbewusstsein beförderte.
Mit dem Erwerb der Grafschaft Tirol vermochten die Habsburger die territoriale Brücke zu ihrer ursprünglichen alemannischen Herkunftsregion zu schlagen. Und mit dem Erwerb der kleineren Grafschaften am Bodensee war beinahe schon so etwas wie eine Landbrücke nach Vorderösterreich, zum Breisgau und zu ähnlichen zwischenzeitlich habsburgischen Landen geschlagen.
Die Abrundung der ehemaligen Kronländer zum territorialen Umfang des heutigen Österreich folgte dann erst nach dem Ersten Weltkrieg durch den teilweisen Erwerb Westungarns, des heutigen Burgenlands. Wobei gleichzeitig aber Südtirol und das Kärntner Kanaltal sowie das Kärntner Miestal verloren gingen. Allerdings auch die deutsch besiedelten Gegenden rund um das böhmisch-mährische Kernland, jene Regionen also, die später als „Sudetenland“ bezeichnet wurden und bereits unmittelbar nach der Republiksgründung im Herbst 1918 von den Tschechen annektiert worden waren.
So hat also jedes der heutigen österreichischen Bundesländer eine eigene unverwechselbare Geschichte, eine eigene unverwechselbare historischkulturelle Identität und ein Landesbewusstsein, dessen Verletzung von den Menschen sehr unmittelbar und direkt mit Ablehnung bestraft wird. Als etwa während der NS-Zeit das südliche Burgenland zur Steiermark und Osttirol zu Kärnten geschlagen wurden, beides territorial und ökonomisch nicht ohne Vernunft (ist das bereits „Verharmlosung“?), stieß dies bei der betroffenen Bevölkerung auf heftige Ablehnung. Und alle Vorarlberger, Tiroler, Steirer, Kärntner, Salzburger, Oberösterreicher und Burgenländer finden sich gemeinsam im Misstrauen gegenüber der Zentrale, dem Wiener „Wasserkopf“. Mit Anti-Wien-Emotionen lässt sich gut regionale Politik machen, lassen sich treffliche Landtagswahlkämpfe bestreiten, ein billiges aber immer wieder funktionierendes Rezept.
Die solcherart existente Vielfalt an Landesidentitäten und regionalen, auf die ehemaligen Kronländer und nunmehrigen Bundesländer zentrierten, Heimatbindungen verfügt natürlich auch über die dementsprechenden Klischees. Salzburg ist natürlich Mozart samt Mozartkugeln, die Festspiele und Herbert von Karajan, der Wintersport-Recke Hermann Maier, der Jedermann am Domplatz, das Café Bazar und die tourismusverseuchten Bergtäler bis hinein nach Zell am See, Bad Gastein und Flachau gehören dazu.
In der Steiermark heißt es: „Grün sind Wiesen und Äcker, Peter Rosegger“. Und der Erzberg samt Hüttenwerk, der VOEST-Alpine und der Leobner Montan-Universität sind ebenso steirisch wie der Grazer Schlossberg samt Uhrturm, der auf das Landhaus samt Zeughaus, dem alten und jungen Josef Krainer – beide längst verstorben – herunter schaut. Die steierische Weinstraße, Schilcher und Welschriesling, Mariazell und Radkersburg, die Murauer Brauerei und die Riegersburg, die Grazer Burschenschafter und die Donawitzer Werkskapelle, all das ist steierisch.
Ja und Kärnten? Kasnudln und Abwehrkampf, zweisprachige Ortstafeln, Koschat-Lieder und Lobisser-Holzschnitte, die Expressionisten des Nötscher-Kreises und Kiki Kogelnik, Peter Handke und Peter Kaiser (letzterer ist ein Landeshauptmann), Haiders Bärental und das Paradies des Cornelius Kolig, der Lindwurm, die Karawanken-Bären und nicht zu vergessen der Wörther See samt Villacher Fasching/ Kirchtag, das ist Kärnten mit seinen Berufs-Lustigen.
Und Tirol? Andreas Hofer und Karl Schranz, Toni Sailer und Pater Haspinger, das Hospiz am Arlberg und die Streif in Kitzbühel, die verstopfte Inntalautobahn und der kollektive Phantomschmerz am Brenner wegen des abgetrennten Südtirols, die Schützen und das Skigymnasium von Stams und natürlich das Goldene Dachl von Innsbruck, das ist Tirol.
Über die Vorarlberger ist genug gesagt, wenn man feststellt, dass dort die einzigen Alemannen leben, die Österreich aushalten, die umgekehrt Österreich auszuhalten hat, von Ewald Stadler bis Hans-Peter Martin (soweit sich noch irgendjemand ihrer entsinnt). Und natürlich sind da noch der Bodensee und die Bregenzer Festspiele, das kleine Walsertal und der Bregenzerwald. Das Burgenland mit seiner vorwiegend fränkischen, also nicht-bajuwarischen Besiedlung, das einst in der Monarchie Deutsch-Westungarn hieß und als einziger Zugewinn der jungen Republik in den frühen 20er-Jahren zu Österreich kam, ist bekanntlich unvollständig. Ursprünglich sollte es ja Vier-Burgenland heißen und auch Ödenburg und Pressburg umfassen.
Heute jedoch ist es derart selbstverständlich ein Teil Österreichs, jener vielleicht, über den man am ehesten Witze macht, der aber mit dem Neusiedler See und dem Schloss Esterhazy, mit den Mörbischer Festspielen, mit der wunderbaren Altstadt von Rust, mit seinen gediegenen Rotweinen unverzichtbarer Teil der österreichischen Identität ist.
Und dann ist da noch das eigentliche Österreich ob und unter der Enns: Unter der Enns mit seinen vier Vierteln, von der Weltstadt Wien marginalisiert und doch das größte Bundesland des heutigen Österreichs. Ein Bundesland, das eine dominierende Rolle im Rahmen des rot-weiß-roten Föderalismus spielt.
Und dann ist da noch – zu guter Letzt und doch so dominant – die vormalige Hauptund Residenzstadt, die Kaiserstadt, die heutige Bundeshauptstadt, das eigene Bundesland Wien. Das Wien der Habsburger, das Wien des Karl Lueger, das Rote Wien, das die letzten langen Jahre von einem ebenso grantigen wie trinkfreudigen Fiakertypen regiert wurde, und dennoch eine der europäischen Metropolen mit der höchsten Lebensqualität ist. Dieses Wien stellt so etwas wie einen natürlichen Antagonismus zu den Bundesländern, zu den ehemaligen Kronländern dar. Es ist nicht nur Zentrale, es ist auch „Wasserkopf“, es ist nicht nur Drehscheibe für die Österreicher aller Länder, es ist auch ganz reales Feindbild, eine Metropole, die über Jahrhunderte nach Osten geblickt hat in Richtung Slawen und Magyaren, die die europäische Ankerstadt für Serben und Kroaten, für Ungarn, Slowaken und Tschechen war, eine Stadt, die eine der Welthauptstädte des jüdischen Geisteslebens war und teilweise noch ist. Jene Stadt, wo Adolf Hitler politisiert wurde in der gleichen Zeit, in der Sigmund Freud die Psychoanalyse entwickelte und Karl Kraus das Feuilleton prägte. Das ist die Stadt der Gebrüder Strauß und des Walzers, der Heurigensänger und der Schwulen-Hochämter beim Life-Ball. Was der „echte Wiener“ ist, ist schwer zu definieren.
Jener Phänotypus, der von der bajuwarisch-fränkischen Zuwanderung in der babenbergischen Ostmark geprägt war und heute noch in Resten in den Weinbau- und Heurigenviertel der Stadt vorzufinden ist, wohl nur noch in geringem Maße. Die slawischen und magyarischen Zuwanderer aus der Nachbarschaft in der Donaumonarchie schon eher. Es gibt ihn jedenfalls, den Typus des Wieners und er ist immer der Gegentypus zum Provinzler, zum Älpler, zum Rustikal-Österreicher. Alles in allem ist es also eine Art Hassliebe, die die Österreicher aus den Bundesländern mit den Wienern und umgekehrt verbindet.
Im politischen Gefüge der Republik ist es der Föderalismus, der aus der Existenz der Eigenwilligkeit der österreichischen Bundesländer, der ehemaligen Kronländer erwächst. Es ist dies ein Föderalismus, der zweifellos zahlreiche Mehrgleisigkeiten, bürokratische Umständlichkeiten und kleingeistige Bürokratie erzeugt. Es ist aber auch ein Föderalismus, der aufgrund der historisch gewachsenen und so ausgeprägten Landesidentitäten unverzichtbar ist.
Nehmen wir beispielsweise die Idee, die Landtage, die ja tatsächlich in der Legislative nur geringe Kompetenz und wenige Aufgaben wahrnehmen können, abzuschaffen. Will man wirklich Landesparlamente, die es über Generationen gegeben hat und die mit den Landständen eine Tradition bis ins Mittelalter haben, abschaffen und damit regionalen Parlamentarismus und an die kleinräumige Heimat gebundene Demokratie der Zentralisierung opfern? Und ist tatsächlich das Prinzip der Rationalisierung im Bereich der Landesverwaltung und der Landespolitik die einzig denkbare Maxime? Sollte man nicht vielmehr davon ausgehen, dass Demokratie und demokratische Politik eben auch Geld und Mühen kosten?
Ein historische Gemeinwesen, wie etwa das Land Kärnten, das über tausend Jahre Reichsherzogtum war, oder die grüne Mark oder das Land Tirol, sollten sie nicht selbstverständlich Vertretungskörper eben Landtage und eine eigene Landespolitik haben? Gewiss, eine Reform der Aufgabenstellungen und der Befugnisse dieser Vertretungskörper ist zweifellos angesagt. Im Zuge einer europäischen Subsidiarität aber müsste man Subsidiarität auch im nationalstaatlichen Bereich verwirklichen! Nach dem Motto, der Bund ist nur für all das zuständig, was die Länder nicht selbst lösen können, und jene sind nur für das zuständig, was die Kommunen nicht im wohlverstandenen Eigeninteresse regeln. Das wäre Subsidiarität, mehr Rechte also für die Länder, mehr Befugnisse, mehr unmittelbare Bürgerbeteiligung im unmittelbaren Lebensbereich jener historisch gewachsenen Entitäten, mit denen sich die Menschen als Tiroler, Steirer, Kärntner, Salzburger so verbunden fühlen. Diese Verbundenheit mit der jeweiligen Heimat, die im Wesentlichen wohl deckungsgleich ist mit dem jeweiligen Bundesland, schafft in Summe Verbundenheit mit Österreich. Österreichbewusstsein und Österreichpatriotismus ohne das auf die Länder bezogene Heimatgefühl ist nämlich kaum denkbar.