Der ukrainische Präsident und unsere Neutralität

31. März 2022

Der ukrainische Präsident Selenski ist in diesen Tagen gewiss am Höhepunkt seiner Karriere – weniger als Politiker, sondern als Schauspieler. Tägliche Auftritte vor der Kulisse des Parlaments von Kiew, bekleidet mit einem Militär-T-Shirt, stilisieren ihn zum Helden der Abwehrschlacht hoch. Und dann sind da noch seine Videoauftritte in einer Reihe von Parlamenten der westlichen Welt. In den heiligen Hallen des Kapitols in Washington war er ebenso zu sehen wie im Europäischen Parlament und genauso im deutschen Bundestag und, und, und. Nur das österreichische Parlament hat einen solchen Auftritt, in dem der ukrainische Präsident einerseits massive Hilfe fordert, andererseits ausschließlich die ukrainische Position darstellt, nicht gestattet, und zwar wegen der ablehnenden beziehungsweise zögerlichen Haltung der Freiheitlichen und der Sozialdemokraten. Die SPÖ wollte sich angeblich nur darüber beraten und hat deswegen nicht gleich zugestimmt, die Freiheitlichen waren aus Gründen der österreichischen Neutralität prinzipiell dagegen. Sie haben sich damit natürlich wieder die Schelte der gesamten etablierten Politik und der Medien eingehandelt.Da muss man allerdings schon einmal nachfragen dürfen, ob es wirklich mit dem Selbstverständnis eines neutralen Staates zusammen passt, wenn man bei kriegsführenden Parteien einer Seite die Darstellung ihrer Sicht der Dinge im eigenen Parlament gibt und der anderen Seite nicht. Der Einwand, dass die russische Seite der Aggressor ist und dass die Ukrainer sich in einer Abwehrschlacht befinden, ist da wohl kaum zu entkräften. Und die gängige Lesart der etablierten Politik im Lande, die da behauptet, unsere Neutralität könne niemals eine moralische sein, sondern nur die Weigerung, irgendeinem der Militärbündnisse beizutreten, ist mit Ausnahme der FPÖ längst Allgemeingut geworden.
Nun zeigt die Schweiz allerdings, dass es auch anders gehen kann. Die Eidgenossen haben nämlich jeglichen Transport von Waffen über ihr Territorium verboten, gleich von wem und gleich in welche Richtung. In Österreich hingegen ist in den vergangenen Wochen jede Menge von Waffen in Richtung Ukraine geschleust worden. Und natürlich hat es auch Überflüge von NATO-Luftwaffe-Einheiten gegeben. Schwedens Ministerpräsidentin hat dieser Tage die Wahrheit über die Neutralität gesagt. Sie meinte, ihr Land sei seit dem EU-Beitritt nicht mehr neutral und die Neutralität sei gewissermaßen damit gestorben. Österreich hat sich damit bislang durchgeschwindelt und kaum ein ernstzunehmender Politiker hat es je gewagt, die Wahrheit zusagen. Stattdessen wird behauptet, man bleibe natürlich „immerwährend neutral“, man sei nur im Rahmen der europäischen Beistandspflicht zur Hilfe genötigt. Dass man wahre Neutralität – und das sieht man im aktuellen Konflikt zwischen Russland und Ukraine ganz deutlich – längst relativiert oder gar völlig hinter sich gelassen hat, wagt man nicht öffentlich zuzugeben. Allzu positiv ist diese Neutralität in der österreichischen Bevölkerung vorhanden, die Wahrheit, dass nämlich nur mehr die FPÖ für diese Neutralität eintritt, die will man in den etablierten Medien und in den Politbüros der etablierten Parteien schon gar nicht zugeben.
So ist also die Empörung, dass man dem ukrainischen Präsidenten nicht gestattet hat, im österreichischen Parlament zu sprechen, nur allzu verständlich. Verfassungskonform, weil nämlich dem Geiste der immerwährenden Neutralität entsprechend, haben sich da wohl nur die Freiheitlichen verhalten. Aber wohl auch das wird man in diesen Tagen von keiner Seite hören. Und die Kühnheit, neben dem ukrainischen Präsidenten auch den russischen im österreichischen Parlament über Videoschaltung zu Wort kommen zu lassen, um gewissermaßen als Neutraler beide Seiten nach dem Prinzip audiatur et altera pars zu hören, dieseKühnheit hat wohl niemand.


Auf zur lustigen Russenhatz

24. März 2022

Jeder, der sich in diesen Tagen nicht schnell genug empört über Putins Angriffskrieg, wird an den Pranger gestellt. Jeder Mann, der irgendeinmal mit Putin im positiven Sinne zu tun hatte oder sich freundlich über den russischen Präsidenten geäußert hatte, diesen nicht flugs mit Adolf Hitler vergleicht, wird gleich zur Unperson erklärt. Und alle, die auch nur irgendwie verdächtig sind über Russland, und sei es nur in Facetten, positiv zu denken, werden aus der Gemeinschaft der Wohlmeinenden ausgestoßen. Die Mainstream-Medien sind da wieder einmal absolut gleichgeschaltet. Und sogar normalerweise differenziert argumentierende Meinungsmacher wie der Chef des Innenresorts der „Presse“, immerhin eine Qualitätszeitung, prangert in diesen Tagen jedermann an, der irgendwo einmal im Verdacht stand, zu den Putin-Verstehern zu gehören. Da werden die NEOS zwar gelobt, weil sie sich als erste klar für die Ukraine aussprachen, aber dann wird der Großfinanzier ebendieser NEOS, der Austro-Oligarch Haselsteiner getadelt, weil er sich seinerzeit für eine Kooperation mit den Russen ausgesprochen hatte. Da wird der ehemalige ÖVP-Wunderwuzi Sebastian Kurz getadelt, weil er irgendwann einmal von einer Freihandelszone von EU und Russland geträumt hatte. Und sogar der Bundespräsident wird getadelt, weil er angeblich seinerzeit Putin auch einmal anders und nicht nur als blutrünstigen Kriegsherren erlebt hatte.
Und die Freiheitlichen, das sind natürlich die ganz Bösen. Sie hatten ja mit der Putin-Partei einen Freundschaftsvertrag. Diese Freiheitlichen wagen es doch glatt, in der gegenwärtigen Debatte über den Ukrainekrieg und dessen Vorgeschichte auch das eine oder andere prorussische Argument zu bringen. Unerhört! Aber Ironie beiseite. Diese allgemeine Russen-Hatz quer durch Europa und den Westen treibt seltsame, ja ungustiöse Blüten: Da werden Künstler wie die Sopranistin Netrebko oder der russische Dirigent Georgiew diffamiert und ausgegrenzt, weil sie sich offenbar nicht entschieden genug gegen ihr Vaterland wenden. Da setzt man russische Künstler unter Bekenntnisdruck, auch solche, die völlig unpolitisch sind, sich doch klar zu positionieren, natürlich gegen Russland und gegen Putin. Da werden behinderte russische Sportler von der Behindertenolympiade ausgeschlossen. Und schließlich und endlich verbietet man russische Medien, die innerhalb der EU sendeten bzw. publizierten, wie etwa „Russia Today“, um den Menschen innerhalb der EU nur ja keine prorussische Stimme zuzumuten.
Damit erweist sich aber unsere Demokratie und unsere angeblich offene Gesellschaft schlechte Dienste. Gesinnungsdruck auf einzelne Menschen ist nämlich undemokratisch. Die Beschneidung der Meinungsvielfalt, und sei es auch Propaganda, ist ebenso wenig demokratisch. Die gleichgeschaltete Hetze gegen ein gesamtes Volk, wo doch der Krieg offenbar nur den Willen eines einzelnen, nämlich Putins, entstammt, ist auch abzulehnen.
Ach ja, da sind dann noch die Sanktionen. Sanktionen, die Russland massiv treffen sollen. Und sie sind auch treffsicher, treffsicher nämlich gegenüber dem Volk, gegenüber den einfachen Leuten. Putin selbst wird wohl kaum betroffen sein und die viel zitierten Oligarchen werden die zeitweise Behinderung in der Nutzung ihrer Villen an der Cote d‘Azur und ihrer Motorjachten zu verschmerzen wissen, aber die kleinen Leute, die 130 Millionen russischen Bürger, werden die Sanktionen spüren. So sind Sanktionen im Grund eine politische Waffe, die – natürlich wesentlich undramatischer – ähnlich wirken wie das Bombardement von Wohnvierteln der Zivilbevölkerung in einem Krieg. Es wird durch sie Druck aufgebaut, der von Seiten der geschundenen Bevölkerung auf die politische Führung zurückschlagen soll. Das funktioniert zumeist beim Bombenkrieg gegen die Zivilbevölkerung nicht und das dürfte im Falle der Sanktionen auch in Russland in diesen Tagen nicht funktionieren. Eines ist klar: Der hoch moralische Westen sollte vom hohen Ross steigen. Wie viele militärische Konflikte haben die USA in den letzten Jahrzehnten vom Zaun gebrochen, mit wie vielen Lügen wurden diese begründet, man denke nur an Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen? Und wie werden bei uns Nonkonformisten, die gegen den Mainstream schwimmen behandelt?
Sie werden vielleicht nicht eingesperrt wie Nawalny in Russland, dafür aber sozial geächtet und vernichtet. Und wie groß ist die Meinungsfreiheit gerade in der aktuellen Frage hierzulande? Sind wir da wirklich soviel besser als die Russen?


Die fetten Jahre sind vorbei

17. März 2022

In diesen Tagen explodieren bei uns die Preise, und wir nehmen das, ohne groß zu murren, hin. Anderenorts nämlich, konkret wenige hundert Kilometer von uns entfernt, explodieren nämlich die Bomben, und verglichen damit sind wir nachgerade ganz gut dran.
Die Frage allerdings, warum diese Preisexplosionen gerade bei uns stattfinden, muss dann doch gestellt werden. Nur am Ausfall der russischen Gaslieferungen und die Getreideernte in der Ukraine steht gegenwärtig auch noch nicht an. Warum also stiegen die Lebensmittelpreise?
Nach Jahren, in denen es so schien, als würde das Geld auf den Bäumen wachsen – „koste es, was es wolle“, O-Ton Sebastian Kurz – ist jetzt plötzlich kein Geld mehr da, und von Seiten der Regierung hört man, eine Verminderung der Energiepreise von Benzin und Gas etwa durch den Verzicht des Staates auf die Mehrwertsteuer sei schlicht und einfach nicht finanzierbar. Bislang spielten die Milliarden allerdings keine Rolle, etwa wenn es darum ging, hunderte Millionen von Tests zu horrenden Preisen einigermaßen sinnlos zur Angstmache der Bevölkerung zu finanzieren oder wenn man mittels chaotischer Coronahilfsmaßnahmen Milliarden in den Sand setzte oder Impfstoffe aufkaufte, die man kurz vor dem Ablaufdatum an Balkanländer verschenkte.
Tatsache ist jedenfalls, dass wir mitten in einer horrenden Inflation mit massiven Teuerungen stehen, dass aber das Einkommen der Menschen im Lande in keiner Weise steigt. So können sich viele den Treibstoff für die Fahrt zur Arbeit und die Gasheizung zur Wärmung ihrer Wohnungen nicht mehr leisten. Und für all jene, die an der Armutsgrenze leben, für Kleinrentner etwa oder alleinerziehende Mütter, ist wohl schon der wöchentliche Lebensmitteleinkauf nur mehr mit gewissen Einschränkungen möglich. Tatsache ist jedenfalls, dass wir allesamt ärmer werden. Die Ersparnisse der Menschen schrumpfen, die Kaufkraft ihrer Gehälter und Pensionen ebenso. Und irgendwie wird die Regierung ihre vielen Milliarden, die sie in den letzten Jahren verpulvert hat, refinanzieren müssen. Mutmaßlich durch Steuererhöhungen und eben durch die Inflation, wobei Zinsen für Sparguthaben eben nicht mehr angehoben werden.
Wir alle, die Bürger und Steuerzahler also, bezahlen für die verfehlte Politik unserer Regierung, wir bezahlen aber auch im Kreise der EU für die schrankenlosen Schuldenmacher in den Mittelmeerländern der Union. Längst ist die Europäische Union ja zu eine Transfer- und Schuldenunion geworden und wir bezahlen US-amerikanische globale militärische Abenteuer, aber auch für die Expansion der NATO in Richtung Osten, die nicht zuletzt zum Ukrainekrieg geführt hat. Und natürlich bezahlen wir für die militärische Aggressivität von Putins Russ-
land, da die unheilvolle wirtschaftliche Entwicklung nunmehr erst durch Putins Krieg eskaliert ist.
Insgesamt dürfte uns allen nunmehr deutlich werden, dass die fetten Jahre vorbei sind. Die Jahre, in denen wir uns in der Illusion vom ewigen Frieden, von ewiger Freiheit und vom ewigen Wohlstand gewiegt haben.
Die nunmehr hoffentlich auslaufende Coronapandemie hat uns gezeigt, dass unsere Freiheit sehr rasch enden kann.
Der russische Angriffskrieg zeigt uns, dass unser Frieden sich nur allzu schnell in Luft auflösen kann.
Und die gegenwärtige massive Inflation führt uns vor Augen, wie fragil unser Wohlstand ist. Die fetten Jahre sind vorbei.


Neutralität und ­Landesverteidigung: Realität und Vision

17. März 2022

Gut 70 Prozent der Österreicher sind laut aktuellen Umfragen für die Beibehaltung der Neutralität. Und nahezu genauso viele Menschen sprechen sich dafür aus, dass unsere Alpenrepublik Teil eines europäischen Verteidigungssystems werden solle. Für den Beitritt in eine US-dominierte NATO ist also, wenn überhaupt, nur eine Minderheit.
Tatsächlich gab es vor gut 20 Jahren, während der ÖVP-FPÖ-Koalition unter Wolfgang Schüssel und Susanne Riess-Passer, eine kurze Phase, in der sich eine Europäisierung des Nordatlantikpaktes und damit eine Emanzipation der Europäer von der US-amerikanischen Dominanz andeutete. Damals schien es so, als könnte sich die NATO zu einem auf die EU-Staaten reduziertes Verteidigungsbündnis entwickeln. Der Kauf der 24 Eurofighter durch die ÖVP-FPÖ-Koalition – eigentlich war es ja eine FPÖ-ÖVP-Regierung – sollte eigentlich so etwas wie ein österreichischer Beitrag zu einer europäischen Luftraumverteidigung sein und die damals andiskutierten Battlegroups der Europäischen Union wären wohl als Kern einer europäischen Armee gedacht gewesen. Wie eine solche EU-Armee im Hinblick auf die Militärpotenziale der beiden Atommächte Großbritannien und Frankreich funktioniert hätte, war damals noch nicht einmal andiskutiert worden. Auf jeden Fall hätte eine EU-Armee mit einem Nuklearpotenzial der beiden Atommächte die Stärke entwickeln können, um den anderen militärischen Großmächten gleichwertig zu sein.
Nein, es kam anders: Bei allen militärischen Fehlschlägen und bei allen militärischem Chaos, das die US-Streitkräfte bei ihren globalen Einsätzen zwischen Afghanistan und Lateinamerika hinzunehmen hatten, blieb die Dominanz der Amerikaner innerhalb des Nordatlantikpaktes nicht nur bestehen, sie verstärkte sich sogar wieder. Unter dem Präsidenten Donald Trump schien es so, als würden sich die Amerikaner wieder auf die Monroe-Doktrin und auf eine „splendid desolation“ zurückziehen. Nunmehr, unter dem demokratischen Präsident Biden, ist es wieder ganz anders – insbesondere im Hinblick auf den geopolitischen Gegner Russland. Historisch gesehen waren es überhaupt zumeist demokratische US-Präsidenten, die Amerika in Kriege und weltweite militärische Konflikte verwickelten. Joe Biden ist nur ein weiterer in dieser Reihe und er hat mit der von den Amerikanern massiv betriebenen NATO-Osterweiterung weit in Bereiche des ehemaligen Warschauer Pakts, ja der ehemaligen Sowjetunion hinein, nahezu so etwas wie eine Einkreisung Russ­lands betrieben. Die Reaktionen der Europäischen Union, aber auch der stärksten europäischen Mächte Frankreich und Deutschland sowie das aus der EU ausgetretenen Vereinigte Königreich in der aktuellen kriegerischen Auseinandersetzung um die Ukraine zeigen deutlich, dass die Europäer hier innerhalb der NATO den US-amerikanischen Vorgaben geradezu sklavisch folgen.
Aufgerüttelt wurden die Europäer, insbesondere die Deutschen, aber auch die neutralen Österreicher durch den Ukrainekrieg insofern, als sie sich eingestehen mussten, dass ihre jeweiligen Armeen in keiner Weise verteidigungsfähig wären und allfälligen Angriffen von außen nichts entgegen zu setzen hätten. Zwar gab und gibt es keinerlei Anzeichen und nicht die geringsten Indizien für russische Angriffsabsichten auf EU-Staaten und NATO-Mitglieder, dennoch war dieser Weckruf offenbar fruchtbar und bitter notwendig. Die deutsche Regierung unter Olaf Scholz stellte sofort 100 Milliarden Euro für die Wiederaufrüstung der Bundesregierung in Aussicht und auch in Österreich war man plötzlich bereit, das minimale Wehrbudget zu erhöhen. Und dann gab es sogar Stimmen innerhalb der Alpenrepublik, die erklärten, nur ein NATO-Beitritt könnte dem Land Sicherheit bescheren.
Nun wissen wir, dass die immerwährende Neutralität, die wir im Umfeld des Staatsvertrages auf sowjetischen Druck hin auf uns nahmen, im Lauf der Jahre zu einem offenbar von der Mehrheit der Bevölkerung geschätzten Teil der österreichischen Identität wurde. Sicherheitspolitisch stellte sie während des Kalten Krieges natürlich eine Lebenslüge dar, da das Bundesheer auch damals nicht in der Lage gewesen wäre, einem Angriff aus dem Bereich des Warschauer Pakt stand zu halten. Insgeheim war man sich in Kreisen des österreichischen Bundesheers damals klar, dass man im Kriegsfalle nur einen Hilferuf an die NATO hätte absetzen können und vielleicht kurzen Widerstand zu leisten im Stande gewesen wäre. Und das hat sich nach dem Ende des Kalten Krieges in keiner Weise gebessert. Als Teil der Europäischen Union, umringt von NATO-Mitgliedern, wähnte man in Wien, auch in Kreisen des Bundesheers, dass die militärische Landesverteidigung eigentlich nicht mehr so wirklich ernst zu nehmen wäre. Das Bundesheer sei eine bessere Zivilschutzorganisation, eine bessere Feuerwehr, die im Katastrophenfall Hilfsdienst leisten müsse, allenfalls im Assistenzeinsatz an der Staatsgrenze illegale Migranten abzufangen habe. Mittels unzähliger Reformen seit der Ära Kreisky hatte man das Heer in langen Jahrzehnten ausgedünnt, seine Bewaffnung ist veraltet, das Konzept der Miliz hat man schlicht und einfach schubladisiert und sogar die allgemeine Wehrpflicht war zeitweise in Frage gestellt. Durch die Möglichkeit zum Zivildienst und durch die übertrieben vorsichtigen Kriterien bei der Assentierung der Wehrpflichtigen wurde diese allgemeine Wehrpflicht ohnedies massiv ausgehöhlt. Und so ist das Heer zum heutigen Tag nur noch bedingt einsatzfähig, verfügt weder über moderne Waffen, noch über eine wirklich funktionierende Luftüberwachung, hat dem Vernehmen nach kaum die nötigen Treibstoffe für die Fahrzeuge und die für einen Einsatz notwendige Munition.
Angesichts dieser Fakten, was die Neutralität und die tatsächliche Wehrbereitschaft des Landes betrifft, gilt es Zukunftsstrategien zu entwickeln, die die Republik einerseits tatsächlich verteidigungsfähig machen und die andererseits einen längst überfälligen Aufbau eines europäischen militärischen Sicherheits- und Verteidigungssystems ermöglichen. Sollten die schönen Worte seitens der verantwortlichen Politik tatsächlich wahr werden und ein adäquates Budget für die Landesverteidigung bereitgestellt werden, müsste das Bundesheer möglichst rasch – auch das müsste zweifellos Jahre dauern – nach Schweizer Muster aufgerüstet werden. Massive Investitionen müssten in die Ausrüstung und die Ausbildung des Kaderpersonals fließen, das gewissermaßen als Berufsarmee den Kern einer breit aufgestellten Milizarmee bildet.
Für eine solche Milizarmee müsste die allgemeine Wehrpflicht auf eine allgemeine Dienstpflicht für alle jungen Staatsbürger erweitert werden. Junge Männer wie junge Frauen sollten im Zuge dieser Dienstpflicht verpflichtete werden, ein Jahr entweder im Wehrdienst oder im Sozialdienst und im Zivilschutz staatsbürgerliche Solidarität zu leisten. Es gibt kein stichhaltiges Argument, warum diese Dienstpflicht für Frauen nicht gelten sollte, da es längst die Gleichstellung von Mann und Frau in allen rechtlichen und sozialen Bereichen durchzusetzen gilt. Selbstverständlich wäre eine solche Milizarmee völlig gleichwertig auch für Frauen offen und müsste im Vergleich zu den sozialen Diensten und jenen im Bereich des Zivilschutzes mit gewissen Vorteilen finanzieller Natur ausgestattet sein, um die entsprechende Mannschaftsstärke zu gewährleisten. Eine solch modern aufgerüstete und bestens ausgebildete Milizarmee mit einer Berufsarmee im Kern, sollte willens und fähig sein, das Land selbständig zu verteidigen. Damit wäre sie aber auch ein Garant für die militärische Neutralität Österreichs, so lange diese aufrechterhalten wird.
Wenn die Europäische Union in der Lage wäre, sich zu einem „global player“ auch in sicherheitspolitischer Sicht zu entwickeln, wäre dazu naturgemäß die Emanzipation von den US-Amerikanern vonnöten. Ob dies nun durch eine Europäisierung des Nordatlantikpaktes oder durch ein Austreten der Europäer aus demselben wäre, ist zweitrangig. Auch wenn weiter so etwas wie eine transatlantische Wertegemeinschaft der demokratisch organisierten großen Mächte, also der USA und Europas, existieren muss, wäre ein eigenständiges sicherheitspolitisches und geopolitisches Agieren der Europäischen Union als Voraussetzung der Wahrung der eigenen Interessen unverzichtbar. Und dies wäre natürlich auch die Voraussetzung, um die österreichische Neutralität in militärischer Hinsicht zugunsten der Teilhabe an einer EU-Armee aufzugeben.
Bereits seit dem EU-Beitritt gilt ja die einigermaßen realitätsferne These, dass die Neutralität Österreichs zwar weiter bestehe, dass sie aber zugunsten einer europäischen Solidarität im Falle des militärischen Ernstfalles obsolet wäre. Bei der Schaffung eines europäischen Sicherheits- und Verteidigungssystems, dessen Teil auch das österreichische Bundesheer sein müsste, wäre unsere Neutralität, ebenso wie jene der anderen bislang neutralen EU-Staaten Irland, Schweden und Finnland, wohl hinfällig. Was dieser Tage der vormalige Spitzenmilitär Höfler sagte, wonach es für Österreich gegenwärtig nur zwei Möglichkeiten gäbe, nämlich eine adäquate Aufrüstung des Bundesheeres oder den NATO-Beitritt, wäre somit überholt. Eine entsprechende und effektive Aufrüstung unserer Armee unter vorläufiger Beibehaltung der Neutralität bis zur Schaffung eines gesamteuropäischen Sicherheits- und Verteidigungssystems wäre vielmehr einzige realistische, aber auch visionäre Möglichkeit, das Land sicherheitspolitisch stabil zu halten. Und diese Armee müsste dann eben in dieses europäische Sicherheitssystem eingegliedert werden und könnte dort als integrativer Bestandteil und als Beitrag Österreichs sinnvoll militärische Potenz entwickeln. Der pseudopazifistische Traum vom ewigen Frieden ist ausgeträumt, das sehen wir in diesen Tagen. Sicherheitspolitische Erfordernisse für unsere Republik, aber auch für das gemeinsame Europa, müssen nun raschest bewerkstelligt werden. Ansonsten laufen wir, nicht nur Österreich, sondern die Länder der Europäischen Union insgesamt, Gefahr, zu drittklassigen Trittbrettfahrern der Weltpolitik zu werden.


Der Krieg der Worte

10. März 2022

Vorläufig sind es nur verbale Drohungen, Worte also, die der Herr des Kremls gegenüber dem Westen, den USA und der NATO und somit auch den meisten Ländern der Europäischen Union von sich gibt. Dabei geht er allerdings so weit, dass er mehr oder weniger deutlich die russischen Nuklearwaffen, Atomraketen also, ins Spiel bringt. Und überaus deutliche Worte verliert er auch gegenüber den neutralen Staaten Europas, gegenüber den Finnen und Schweden, aber auch gegenüber uns Österreichern. Er warnt uns davor einseitig Stellung zu nehmen, die Neutralität zu vergessen oder gar in Richtung NATO zu marschieren.
Was verbale Radikalität betrifft, ist aber Putin keineswegs alleine. Auch die ukrainische Seite greift zu überaus scharfen Formulierungen. Da brüstet sich etwa der Kiewer Bürgermeister Klitschko damit, er habe „six persons killed last night“, also sechs Leute umgebracht. Muss man da stolz sein, auch wenn Krieg herrscht? Und auch der ukrainische Staatspräsident spricht unter Beifall aller westlicher Medien davon, dass die Zivilisten in seinem Land sich doch bewaffnen müssten und Molotowcocktails basteln sollten. Dass er sie damit als Nichtkombattanten einer tödlichen Gefahr aussetzt, ist offenbar gleichgültig und mit seiner vielfach wiederholten Flugverbotszone über der Ukraine, die ja nur von der NATO verhängt werden könnte, forderte er ziemlich unverblümt eine Ausweitung des Krieges, der dann sehr schnell die Dimensionen eines Weltkrieges haben würde.Da ist es dann vergleichsweise schon harmlos, wenn ein US-Senator fordert, man möge Putin doch umbringen, wenn der amerikanische Präsident Putin als „Killer“ bezeichnet und die meisten westlichen Medien von einem Irren, von einem Verrückten sprechen.
Nun wissen wir, dass dem Krieg der Worte nur allzu leicht der ganz normale, der Krieg mit Waffen folgen kann, und wir wissen auch, dass durch Worte, allzumal durch abfällige verletzende, bösartige Worte, bei den Betroffenen bleibende Verwundungen entstehen, die nicht mehr verziehen, nicht mehr überwunden werden können. Nun könnte man sagen, ob diese Worte einen Diktator verletzen, der selbst tausende, ja zehntausende Menschenleben riskiert, sei gleichgültig. Vielleicht aber doch nicht ganz, denn irgendwann einmal wird es ja Frieden geben müssen und irgendwann einmal wird auch der Westen, werden die NATO, die USA und auch die EU-Europäer mit dem Herrn im Kreml reden müssen. Und dann könnte sich schon die Frage stellen, ob da unüberwindbarer Hass zwischen den Gesprächspartnern herrscht oder nicht. Die Wortwahl ist also so etwas, was im Frieden wie auch im Kriegsfalle von großer Bedeutung sein kann.
Auf eines darf in diesem Zusammenhang auch hingewiesen werden: Mit scharfen Formulierungen, mit verletzenden Worten beeinflusst man den Verlauf des Krieges in keiner Weise, während Deeskalation auch im verbalen Bereich dazu führen kann, dass doch vernünftige, allenfalls auch friedliche Lösungen auf beiden Seiten gesucht werden. Zuspitzung der gegenseitigen Beschuldigungen und Beschimpfungen schafften hingegen nur Hass. Solcher Hass ist die Basis aller gewalttätigen Konflikte, auch jenes in der Ukraine.


Im Zeitalter des Realitätsverlusts

10. März 2022

Beginnt ein neues Zeitalter des Irrationalen?

Was war man stolz darauf in Zeiten der Aufklärung, der offenen Gesellschaft und der liberalen wissenschaftlich fundierten Weltsicht zu leben. Das finstere Mittelalter, wir hatten es hinter uns gelassen, ebenso die Zeiten der fundamentalistisch motivierten Religionskriege und auch das 20. Jahrhundert mit seinen totalitären Ideologien, dem Faschismus und dem Sowjetkommunismus. Und mit dem Zusammenbruch des real existierende Sozialismus wähnte man gar für kurze Zeit das Zeitalter des ewigen Friedens sei angebrochen. Das Ende der Geschichte wurde proklamiert und der globale Sieg der liberalen Demokratie. Zwar versuchte die einzig verbliebene Supermacht, die Vereinigten Staaten von Amerika nämlich, letzteres weltweit durchzusetzen, beziehungsweise diese liberale Demokratie zumindest zum Maßstab für jegliche Staatlichkeit rund um den Erdball zu machen. Wie wir heute wissen, ein vergebliches und wohl auch ein unsinniges Ansinnen. Und was die offene Gesellschaft und die angebliche fortschrittliche Aufgeklärtheit der selbigen betrifft, so zeigt sich zunehmend, dass diese offene Gesellschaft zunehmend von den Maximen der Political Correctnes reguliert wird und dass statt Aufklärung im immer stärkeren Maße neue Dogmen dominieren, die sich aus zeitgeistig modischen Strömungen wie Feminismus, Gendern, Black lives Matter, „Wokeness“ und ähnlichen Schwachsinn ergeben. Und so kann sich bei näherer Betrachtung sehr rasch der Eindruck ergeben, dass wir keineswegs in einem aufgeklärten Zeitalter leben, sondern viel mehr am Beginn einer Epoche des Irrationalen stehen.
Am Anfang desselben steht einmal der „neue Mensch“, wie ihn die Linke seit der Französischen Revolution, über den Marxismus bis hin zu Frankfurter Schule konzipiert hat und auch realisieren will – wenn es ein muss mit Gewalt. Dieser „neue Mensch“, der die menschliche Natur, wie sie sie im Zuge der Evolution entwickelt hat, mit all ihren Tiefen und Untiefen schlicht negiert, wurde überall dort, wo man eben gewaltsam umzusetzen versuchte, zur Quelle von Totalitarismus und Genoziden. Deutlich wurde dies schon in der mörderischen Phase der Französischen Revolution, wo Tausende ihr Haupt unter die Guillotine legen mussten. Evident ist dies auch im Falle der mörderischen Politik Josef Stalins in der Sowjetunion, ebenso wie im Steinzeitkommunismus eines Pol Pot oder in der Kulturrevolution Mao Zedongs.
Aber nicht nur der „neue Mensch“ in der klassenlosen Gesellschaft des real existierenden Sozialismus war es, der solche Ungeheuerlichkeiten gebar. Auch der „neue Mensch“ arischen Geblüts, geboren aus Rassenwahn und Herrenmenschenideologie, sollte zur Quelle schrecklicher Gräuel werden. Weltkrieg und Genozid waren die Folge. Die Leugnung der menschlichen Natur, die mit der Konzeption des „neuen Menschen“ Hand in Hand ging, deutete bereits einen Schritt hin zur Irrationalität. Wer glaubt, in der Attitüde von Sozialingenieuren die Gesellschaft verändern zu können, indem er den Menschen in seinen Stärken und Schwächen, in seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten ignoriert, ja negiert, und anstelle der menschlichen Psychologie und Biologie ideologische Vorgaben zum Maß aller Dinge macht, muss letztlich zu Mitteln der Gewaltherrschaft und zum Ignorieren der Realität greifen, um seine Zielvorstellungen durchzusetzen. Ein Unterfangen, das im vorigen Jahrhundert leidvoll gescheitert ist, wie wir am NS-Faschismus, aber auch am Sowjetkommunismus unschwer zu erkennen vermögen. Die Technikfeindlichkeit und das Ignorieren naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, wie es als Gegenbewegung der absoluten Technikvergötzung nach der industriellen Revolution entstanden ist, stellen einen weiteren Schritt hin in ein Zeitalter des Irrationalen dar. Wenn man nach der industriellen Revolution und im Zuge der Entwicklung immer neuer und leistungsfähigerer Technologien geglaubt hat, dass mit Technik alle Probleme der Menschheit zu lösen wären, so hat sich in den letzten Jahrzehnten gewissermaßen als Gegenbewegung dazu so etwas wie eine Ideologie der Technophobie, der Technikfeindlichkeit entwickelt. Träger dieser irrationalen und ideologisierten Bewegung sind die diversen Grünparteien, die sich quer durch Europa konstituiert haben. Die neue Linke, die aus der 68er-Bewegung entstanden ist, hat schnell die Anti-Atomkraft-Bewegung für sich vereinnahmt. Aus der Anti-Vietnam-Bewegung entstand die Friedensbewegung, die überdies gegen die militärische Nutzung von Nuklearwaffen auftrat. Auf der Basis dieser Bewegungen entwickelten sich die Grünparteien, die in den 80er-Jahren dann so stark waren, dass sie in die jeweiligen Vertretungskörper und Parlamente einzogen. Ursprünglich war Umwelt- und Naturschutz eher eine Domäne wertkonservativer Gruppen. Dass just die ostmarxistische Linke ihre tiefrote Ideologie mit einem grünen Mäntelchen zu tarnen verstand, stellt gewissermaßen eine Ironie der Geschichte dar.
Die daraus resultierende allgemeine Technikfeindlichkeit, gepaart mit einer gewissen allgemeinen Wachstums- und Fortschrittskritik, bedingt eine weitere Hinwendung zur Irrationalität. Einerseits nahmen gerade die Grünen alle Segnungen des technischen Zeitalters und die Vorteile einer hochtechnisierten Zivilisation für sich in Anspruch, andererseits wurden moderne Technologien zunehmend dämonisiert. Überdies verstärkte sich in diesen Kreisen ein tiefgehendes Unverständnis für das Funktionieren von Technik selbst. In Unkenntnis und Ignoranz der Naturgesetze haben in diesen Bereichen Gesellschaftsschichten das Reden, die schlicht und einfach nicht mehr nachvollziehen können, wie und warum die Dinge funktionieren, auf welcher Basis technische Funktionen ablaufen. Man drückt den Schalter und das Licht geht an. Warum das so ist, weiß man nicht. Solcherart hat sich eine Art Wundergläubigkeit eingenistet, die jener gleicht, welche Steinzeitmenschen im Hinblick auf Naturereignisse gehabt haben dürften: Man versteht nicht, was geschieht, glaubte seinerzeit an höhere Mächte und heute an die Selbstverständlichkeit einer hochtechnologischen Zivilisation.
Dazu kommt ein weiterer Faktor, der den Realitätsverlust in unserer Gesellschaft befördert: die zunehmende Geschichtsvergessenheit. Um politische, ökonomische und gesellschaftliche Zusammenhänge verstehen und beurteilen zu können, bedürfte es tiefergehender Kenntnisse der historischen Entwicklung. Gerade aber in jenen Gesellschaftsschichten, die sich auf der Höhe des Zeitgeists sehen und deren politisch korrekte Zivilreligion der Hedonismus ist, üben in Bezug auf Geschichtswissen bewusste Informationsaskese. Dies nicht um unbeeinflusst zu eigenen Erkenntnissen zu kommen, sondern aus Ignoranz. So wie man die wahre Natur des Menschen, wie sie biologisch und psychologisch gegeben ist, zu ignorieren versucht, versucht man auch die Geschichte des Menschengeschlechts auszublenden im Glauben, dass man heute im Hier und Jetzt klüger ist als all die Generationen vor uns. Die Feststellung des Philosophen wonach jeder, der seine Geschichte nicht kennt dazu verdammt ist, sie erneut zu durchleiden, ist den Trägern des neuen irrationalen Zeitalters völlig fremd. Sogar die Gesetzlichkeiten des dialektischen Materialismus, wie wir sie seit Marx und Engels kennen, ist da völlig aus dem politisch-gesellschaftlichen Bewusstsein verschwunden. Man ist zwar zeitgeistig links, die Kenntnis der Geschichte aber glaubt man dennoch vergessen zu können.
Im Wesentlichen also sind es jene drei Phänomene – das Ignorieren der biologischen und psychologischen conditio humana durch das Streben des „neuen Menschen“, die Technikfeindlichkeit und Ignoranz der physikalischen und chemischen Naturgesetzen und die Geschichtsvergessenheit – die den Weg in ein neues in hohem Maße irrationales Zeitalter bedingen. Welch unheilvolle Folgen dieser gesamtgesellschaftliche Realitätsverlust noch nach sich ziehen wird bleibt abzuwarten. Wenn der Humanismus, die Aufklärung und die umfassende naturwissenschaftliche Forschung die Menschheit im Zuge ihrer kulturellen Evolution in lichte Höhen zu führen vermochte, wird uns das neue Zeitalter des Irrationalen mutmaßlich Gefahren aussetzen, die wir längst überwunden glaubten.


Zeitenwende für Europa

3. März 2022

Läutet der Ukrainekrieg eine neue historische Epoche ein?

Ein gutes Vierteljahrhundert hatte Europa mit geringfügigen Ausnahmen ganz realen Frieden. Nach dem Ende des Kalten Krieges und der bipolaren Weltordnung mit dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus und des Warschauer Pakts waren es nur die Geburtswehen der Nachfolgestaaten und der damit verbundenen kriegerischen Auseinandersetzungen, die den Frieden störten. In Osteuropa ging dies verhältnismäßig friedlich über die Bühne, selbst die staatliche Trennung zwischen Tschechen und Slowaken verlief völlig unblutig. Einzig am Balkan führte das Auseinanderbrechen Tito-Jugoslawiens zu Sezessionskriegen insbesondere zwischen Serben und Kroaten, die bis Mitte der 90er andauerten. Seitdem aber schwiegen die Waffen und der alte Kontinent wähnte sich offenbar im Glauben an den Ausbruch des ewigen Friedens.
Ermöglicht wurde dieser Frieden in Europa und die damit verbundene Osterweiterung der Europäischen Union durch die Schwäche Russlands. Unter Boris Jelzin kam es nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion auch zur Erosion des russischen Vielvölkerstaats. Das Ergebnis war, dass von etwa 140 Millionen ethnischen Russen 20 Millionen außerhalb der russischen Grenzen lebten. Ein Zustand, von dem von Anbeginn an klar sein musste, dass er im Falle des Wiederaufstiegs des größten Flächenstaats der Erde nicht hingenommen werden würde.
Die EU-Osterweiterung und die darauf folgende Aufnahme der baltischen Staaten, Polens, Tschechiens, der Slowakei, Rumäniens und Bulgariens in die NATO war aber ein klares Signal gegenüber dem Kreml, dass ein Wiederaufleben des Sowjetimperiums oder gar des Warschauer Pakts absolut undenkbar wäre. Davon allerdings nicht wirklich betroffen waren vorwiegend russisch bewohnte Territorien im grenznahen Umfeld Russ­lands wie im Kaukasus, in Moldawien und eben in der Ostukraine.
Dass nun just die Problematik um die eher russisch dominierte Ostukraine Auslöser und Vorwand für den Angriffskrieg Putins gegen den ukrainischen Gesamtstaat sein sollte, konnte man bis vor wenigen Tagen nicht ahnen. Die großrussische Logik allerdings, die auch Wladimir Putin zu eigen ist, wonach die Ukrainer eben „Kleinrussen“ wären, das Land selbst ein Kernbereich der russischen Geschichte darstelle und der bevölkerungsmäßige Rückgang der ethnischen Russen, nur durch eine Vereinigung mit den mehr als 30 Millionen Ukrainern möglich sei. Diese großrussische Logik bedeutet eigentlich, dass der gegenwärtige Angriff auf die Ukraine wenig überraschend war.
Damit ist nun jedenfalls jene Entwicklung endgültig beendet, die es in den späten 90er Jahren und in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts gegeben hatte. Im Zuge der es so schien, als könnte das neue Russland einen Demokratisierungsprozess durchmachen und damit auch eine Annäherung an EU-Europa erreichen. Damals gab es ja auch eine Denkschule, die von einer Europäisierung des Nordatlantikpakts ausging, einer Emanzipation gegenüber den US-Amerikanern und der Schaffung eines eigenen europäischen Sicherheitssystems.
Solcher Art hätte man eine Partnerschaft mit dem neuen Russland entwickeln können, um eine eurasische Achse mit einem gemeinsamen Wirtschaftsraum zu schaffen. Gerade der neue Präsident Putin schien in seinen ersten Regierungsjahren diese Hoffnung zu bestärken. Der Wiederaufstieg Russlands allerdings zu einer global agierenden Weltmacht und die innerrussische Entwicklung hin zur Autokratie, ließen diese europäisch-russische Perspektive zunehmend verkümmern. Nunmehr mit der Dupierung der beiden starken Männern der EU, des französischen Präsidenten Macron und des deutschen Bundeskanzlers Scholz im Vorfeld des Ukrainekriegs durch Putin und nach dem Entfesseln des Angriffskriegs dürfte jede europäisch-russische Kooperation oder gar Allianz mittel- und langfristig undenkbar zu sein.
Diese Erkenntnis mit dem gleichzeitigen Wissen, dass die Weltmacht USA seit ihrem überstürzten Abzug aus Afghanistan vergangenem Sommer auch militärisch im Rückzug ist, könnte aber für die Europäer innerhalb der Union aber tatsächlich so etwas wie einen politischen Paradigmenwechsel, eine Zeitenwende bedeuten. Diese deutete sich bereits im Agieren der Berliner Regierung an.
Wenn ausgerechnet die Links-Regierung unter dem SPD-Kanzler Scholz bereit ist, Waffen an ein kriegsführendes Land zu liefern und gleichzeitig die ungeheure Summe von 100 Milliarden Euro in den rasche Ausbau der eigenen Armee investieren will, könnte dies der Startschuss für eine massive Wiederaufrüstung des Militärpotenzials der Europäischen Union bedeuten. Gegenwärtig wären die EU-Staaten gegenüber einer Aggression von außen, etwa durch die russische Armee, ja keineswegs in der Lage, sich selbst und alleine zu verteidigen. Obwohl Frankreich nach wie vor eine Atommacht ist, ebenso wie England, das durch den Brexit ja aus der Union ausgeschieden ist, könnte man dem russischen Militärpotenzial sowohl im konventionellen Bereich, als auch im nuklearen Bereich nur wenig entgegenstellen. Man wäre also nach wie vor auf den amerikanischen Beistand angewiesen.
Die Europäische Union als „soft power“ muss gegenwärtig allerdings erkennen, dass sie nur mittels der relativ stumpfen Sanktions-Waffe in der Lage ist, gegen Aggressoren zurückzuschlagen. Das geradezu dogmatisch geltende Prinzip, wonach ein Landkrieg in Europa im neuen Jahrhundert undenkbar wäre, ist allerdings obsolet geworden, weshalb die EU gezwungen sein dürfte, auch eine eigene militärische Option zu entwickeln. Bis allerdings die osteuropäischen und die ostmitteleuropäischen Mitgliedsländer der Europäischen Union bereit sein werden, sich ohne der Rückendeckung der US-Amerikaner auf eine solche europäische Militärmacht zu verlassen, dürfte es dauern. Die gegenwärtige russische Bedrohung, etwa für die baltischen Staaten oder Polen, zumal wenn diese auch eine nukleare Bedrohung ist, kann zum jetzigen Zeitpunkt nur mit US-amerikanischer NATO-Unterstützung zurückgewiesen werden. Bis ein europäisches Sicherheitssystem dazu in der Lage sein wird, wird es sicher dauern und es bedarf überdies immenser finanzieller und logistischer Anstrengungen. Noch ist eine europäische Armee, in deren Zentrum starke Landstreitkräfte der deutschen Bundeswehr, assistiert von den französischen Nuklearstreitkräften mit einer gemeinsamen Luftwaffe stehen, Zukunftsmusik. Die neue Großmachtkonfrontation aber, die durch die russische Aggression zweifellos gegeben ist, erfordert von der Europäischen Union genau diese Anstrengungen. Wenn man weiter bloßes Anhängsel der US-Amerikaner innerhalb der NATO bleibt, wird man zukünftig zum Spielball dieser Großmachtinteressen und allenfalls zum Schlachtfeld in einem Konflikt der Zukunft werden. Genau diese Situation kennen wir zwar aus dem Kalten Krieg und aus der Konfrontation zwischen NATO und Warschauer Pakt, sie aber für die Zukunft zu vermeiden, muss die Lehre aus der gegenwärtigen Kriegssituation rund um die Ukraine sein.
Sollte das russische Vorgehen in der Ukraine von Erfolg gekrönt sein und diese wiederum zu einem russischen Satellitenstadt herabsinken, so kann Europa doch – mit weit nach Osten vorgeschobenen Grenzen, eben der Ostengrenzen der baltischen Staaten, Polens, der Slowakei, Ungarns, Rumäniens und Bulgariens – einen europäischen Machtblock bilden, der den imperialen russischen Ambitionen durchaus Paroli bieten könnte.
Gegenüber den diktatorischen Regimen in Moskau und in Peking könnten dann die beiden demokratischen Großmächte, die Europäische Union und die USA auf der nördlichen Halbkugel des Planeten ein glaubwürdiges Gegengewicht bilden. Dies kann nicht zurückführen zu jenem „Gleichgewicht des Schreckens“, das die bipolare Wertordnung der Supermachtkonfrontation im Kalten Krieg darstellte, es wird vielmehr Teil einer multipolaren Weltordnung sein, in der Europa seine eigenen Interessen, nicht nur ökonomisch und diplomatisch, sondern auch militärisch wird wahren müssen. Für die Europäische Union aber könnte dieser Angriffskrieg in der Ukraine ein Weckruf sein.


Wenn historische Vergleiche hinken

3. März 2022

Wladimir Putin, der Kriegsherr, das sei der „neue Hitler“! Das müsse man endlich einmal sagen, so der Herausgeber des zweitgrößten Boulevardblattes der Alpenrepublik. Und der Präsident des Nationalrats merkt so nebenbei an, dass die Ukrainer jetzt im Kriegsfalle doch in ihrem Heimatlande bleiben müssten. Wo käme man da hin, wenn alle im Jahre 1945 aus Österreich geflüchtet wären, anstatt ihre Heimat dann wieder aufzubauen. Und das Ansinnen, er möge auf den Vorsitz im parlamentarischen Untersuchungsausschuss über die ÖVP-Korruption doch verzichten, vergleicht er mit der Selbstausschaltung des Parlaments im Jahre 1933. Dass dann zuvor in den Anti-Coronamaßnahmen-protesten Menschen mit gelben Sternen demonstrierten, ist ein weiterer Fall von einigermaßen missglückten historischen Vergleichen.
Warum missglückt? Ob Wladimir Putin tatsächlich mit Adolf Hitler gleichgesetzt werden kann, muss dann doch hinterfragt werden. Zwar hat er auch wie der Braunauer im September 1939 einen Angriffskrieg gegen Polen, heute gegen die Ukraine entfesselt, ein Weltkrieg, allzumal ein nuklearer, wird daraus hoffentlich denn doch nicht werden. Und die industrielle Vernichtung, welches Volkes auch immer, in einem zweiten Holocaust scheint Putin vorläufig auch nicht vorzuhaben. So muss man also beim gegenwärtigen Stand der Dinge sagen, dass der Vergleich des Kremlherren mit dem NS-Diktator auf eine Verharmlosung des letzteren hinausläuft! So verabscheuenswürdig und katastrophal der gegenwärtige Angriff von Russland auf die Ukraine auch sein mag.
Und was die historischen Vergleiche unseres Nationalratspräsidenten betriff, so ist da ja eher homerisches Gelächter als Empörung angebracht. Er hat nämlich in der Hektik einer TV-Diskussion das gesagt, was die meisten Österreicher seiner Generation und jene der Zeitzeugen von 1945 empfunden haben dürften: Es sind nämlich damals die Kriegssieger, die Besatzer gekommen und nicht so sehr als „Befreier“, wie wir die einrückenden alliierten Truppen heute definieren.
Sein Vergleich aber mit der Selbstausschaltung des Nationalrates im Jahre 1933 lässt dann doch tief blicken. Da ist beim Herrn Sobotka, so wie bei seinem nieder­österreichischen Parteifreund, dem gegenwärtigen Innenminister, der bekanntlich so etwas wie der Kustos eines Dollfuß-Museums ist, eine subkutane Sympathie für den seinerzeitigen Ständestaat unseligen Angedenkens erkennbar.
Was nunmehr jene Anti-Coronamaßnahmen-Demonstranten betrifft, die sich da mit dem gelben Stern schmücken, so bedeutet das wohl einen ebenso verunglückten historischen Vergleich. Sie mögen sich als Ausgegrenzte und als „Corona-Leugner“ Diffamierte zwar zu Recht diskriminiert fühlen, dies aber mit der Situation der Juden im Dritten Reich zu vergleichen, ist mehr als geschmacklos. Zwar steht dahinter gewiss keine antisemitische Absicht.
Man sieht, dass historische Vergleiche nur mit höchster Vorsicht zu ziehen sind. Allzu leicht tritt man – wenn vielleicht auch unbeabsichtigt – in irgendein Fettnäpfchen.
Und so ist die Geschichte zwar insofern ein Lehrmeister, als sie uns gewissermaßen spezielle ­Lektionen erteilt. Sie bietet allerdings niemals real anzuwendende Parallelen auf gegenwärtige Probleme.