Das dritte Rom

Über das Rätsel Russland

Wir Mitteleuropäer, also im wesentlichen wir Deutschen, haben eine merkwürdige Wahrnehmung unseres großen östlichen Nachbarn. Russ­land, dieser größte Flächenstaat der Erde, dieses größte europäische Volk, ist für uns Trauma und ebenso Faszinosum. Gegenwärtig ist es uns – zumindest dem politisch-medialen Mainstream – tatsächlich ein Horror. Russland, personifiziert im Kreml-Autokraten Wladimir Putin ist der militärische Aggressor, jene brutale menschenverachtende Kraft, die den Frieden in Europa zerstört, jene Macht, die es einzudämmen, wenn nicht gar zu vernichten gilt.
Zwar mögen nicht alle Menschen im deutschen Sprachraum so denken, vielleicht sogar nur eine Minderheit. Dennoch wird Russland in unseren Tagen wieder zum Feindbild. Milliarden europäischer und auch deutscher und österreichischer Steuergelder werden von den politischen Verantwortungsträger in die Bekämpfung dieses Russlands investiert. In den Medien ist Russland der Schuldige an allen in diesem Zusammenhang kolportierten Kriegsverbrechen und allein schon eine differenzierte Betrachtung des gegenwärtigen militärischen Konflikt in der Ukraine gilt als Sünde wider die europäischen Werte. Und de facto befindet sich die Europäische Union und damit auch das neutrale Österreich in einer Art hybriden Kriegszustand mit Russland.
Diese negative Sicht auf Russland war im historischen Ablauf keineswegs die Regel. Noch vor zwei Jahrzehnten etwa galt Russland mit dem neuen Präsidenten Putin als Hoffnungsfaktor, als möglicher Partner für Europa, als ein Land, das die Demokratisierung vorantrieb und als Partner für ökonomische, aber auch geopolitische Zukunftsprojekte.
Und auch zuvor in den Jahrzehnten der Sowjet­union war das Land zumindest für die marxistische Linke so etwas wie ein Hoffnungsland. Dass etwa der spätere Bundeskanzler Alfred Gusenbauer als Jungsozialist bei einem Moskaubesuch den Boden geküsst hatte, mag ein Scherz gewesen sein, mit Sicherheit aber war es eine Anspielung auf die vergangene Sowjet-Romantisierung, die es in linken Kreisen seit der Oktober-Revolution auch gegeben hatte.
Nach dem Fall Konstantinopels nach der Eroberung durch die Osmanen wurde Moskau, also Russ­land, zum „dritten Rom“ hochstilisiert. Nun, als Zentrum der Orthodoxie, wurde daraus eine Staatstheorie, die den Machtanspruch Russlands untermauern sollte. Ursprünglich war das Konzept des dritten Roms wohl eher apokalyptisch zu verstehen und nicht so sehr imperial. Gewissermaßen Russland als der letzte Rest der einstmals großen christlichen Zivilisation, in der überall die Häresie Einzug gehalten hat. Eine Vorstellung, die sich gegenwärtig wohl auch in Putins Russland wieder findet, wo man im Gegensatz zur westlichen Dekadenz, welche man der Europäischen Union und den USA nachsagt, noch die wahren Werte des Christentums, des Patriotismus und des Familiensinns vertritt.
In Russland selbst gab es in der Zarenzeit und gibt es heute unter Putin wieder jenes Verständnis der russischen Geschichte, die diese als fortlaufenden Teil der Heilsgeschichte versteht. Gegenwärtig ist die orthodoxe Kirche wieder die Dienerin der russischen Staatsideologie. Diese ist tief mit der russischen Herrschaftspsychologie verbunden, wobei sogar in der Zeit des Sowjet-Kommunismus orthodoxe Herrschaftsmerkmale feststellbar waren.
Überspitzt könnte man sogar sagen, dass der Kommunismus russischer Prägung nur eine in das Profan-weltliche verwandelte irdische Ideologie der russischen Orthodoxie war. Die messianische Heilserwartung, die sich in der Ideologie vom dritten Rom manifestierte, entspricht demnach dem weltlichen Befreiungsgedanken der kommunistischen Ideologie, wie sie in der Sowjetunion im real existierenden Sozialismus bestanden hat. So wie das „letzte Rom“ für die Christenheit allein im Besitz der ultimativen absoluten Wahrheit sein sollte, so war der totalitäre Anspruch des Sowjetkommunismus auf das alleinige Monopol in Sachen der kommunistischen Ideologie unumstößlich. Und dieses Bewusstsein, gewissermaßen auserwählt zu sein, ist im heutigen Russland, das unter Wladimir Putin Krieg gegen den dekadenten Westen führt, wieder die Legitimation für den Machtanspruch des slawischen Großreichs.
Dabei ist das, was früher in Form des Panslawismus so etwas wie einen äußeren Ring um Russland selbst gespannt hat, dogmengeschichtlich tot. Der Anspruch, als größtes slawisches Volk auch für die anderen „slawischen Brüder“ zu sprechen, wird von jenen nicht mehr anerkannt. Dies erweist sich allein in der Tatsache, dass etwa Polen, Tschechien, die Slowakei und selbst die Ukraine, also samt und sonders Staaten mit slawischer Bevölkerung, heute gegen die russische Dominanz aufgestanden sind. Alle ost- und südosteuropäischen slawischen Völker – mit Ausnahme der Serben vielleicht – haben sich von Russland abgewandt und suchen im Anschluss an EU-Europa Sicherheit gegen russische hegemoniale Ansprüche, wobei sie sogar den Schutzschirm des nordatlantischen Militärbündnisses nützen. Und das wiederum wurde von Putins Russland wohl als massive Bedrohung, gewissermaßen als militärische Einkreisung verstanden.
Diese Abwendung der übrigen slawischen Welt von „Mütterchen Russland“ hängt wohl auch damit zusammen, dass man sich in Moskau von den historisch überkommenen autoritären Traditionen nicht zu trennen vermag. Während sich die slawischen Völker zwischen Balkan und Baltikum der westlichen Demokratie verschrieben haben und damit eben auch Mitglieder der Europäischen Union werden konnten, blieb Russland bis zum heutigen Tag ein autoritäres Staatswesen mit autokratischer Staatsspitze. Von den Tagen der Kiewer Rus–Wikinger, über die Gewaltherrschaft der mongolischen Goldenen Horde, von Iwan dem Schrecklichen bis zum letzten Zaren Nikolaus, von Lenin und Stalin bis hin zu Putin, immer waren es Autokraten, Diktatoren oder gar blutrünstige Gewaltherrscher, die Russland führten.
Und immer war das Land auch von einer gewissen Ambivalenz zwischen der Hinwendung zu Europa einerseits und andererseits einer gewissermaßen asiatischen Mentalität geprägt. Peter der Große etwa wollte das Land verwestlichen und nach Europa hin öffnen. Vom jungen Putin glaubte man dies auch. Doch in unseren Tagen erscheint er – zumindest in den westlichen Medien – wieder eher wie Iwan der Schreckliche oder Dschingis Khan.
Auch scheint es ein spezifisch russisches Phänomen zu sein, dass es neben Reformern und Aufklärern, die Russland eben immer wieder europäisieren wollen, so etwas wie mystische und irrationale Figuren gibt.
Gestalten wie Rasputin und Seinesgleichen, aber auch Warlords wie Prigoschin sind für den modernen Westeuropäer schwer zu verstehen. Neben den jeweiligen Alleinherrschern im Kreml und den Kirchenfürsten der Orthodoxie sind es aber sie, die die russische Geschichte prägen.
Was den gegenwärtigen Kreml-Herrn, also Wladimir Putin, betrifft, so scheint sein Denken tief in diesen, uns heute irrational erscheinenden Traditionen der russischen Geschichte verankert zu sein. Ein gewisser Auserwähltheitsglauben, wie er in der Ideologie vom „dritten Rom“ manifest ist, und völkischer Nationalismus, gepaart mit großrussischem Imperialismus und einem autoritären Staatsverständnis sind beim gegenwärtigen russischen Staatspräsidenten unübersehbar. Ob er sich damit behaupten kann, ob Russland in diesen Traditionen künftig seinen Großmachtanspruch wieder erlangen, beziehungsweise bewahren wird können, ist ungewiss.
Für das übrige Europa steht allerdings fest, dass es ohne Russland weltpolitisch zur Rolle des Trittbrettfahrers an der Seite der US-Amerikaner verdammt ist. Nur in einer konstruktiven Partnerschaft mit Russland und dem russischen Volk hätte die Europäische Union, an deren Spitze Deutschland, die Chance gehabt, zu einem Global Player für das 21. Jahrhundert zu werden. Diese Perspektive allerdings ist nun durch den Ukraine Krieg in weite Ferne gerückt.

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