Parteien­landschaft im Umbruch

Österreichs Parteien zwischen Entideologisierung, neuen Zivil­religionen und Massenmigration

Es war der renommierte Historiker Adam Wandruszka, der einmal meinte, Österreichs politische Landschaft sei gewissermaßen gottgewollt von drei politisch–ideologischen Lagern bestimmt. Da sei einmal als ältestes Lager das nationalliberale, deutsch-freiheitliche. Dann das konservativ-christlichsoziale und schließlich das marxistisch-sozialdemokratische. Diese, aus der Monarchie stammende Dreiteilung hat tatsächlich die Erste Republik und über mehrere Jahrzehnte auch die Zweite Republik politisch geprägt. Zwar wurde das nationalliberale Lager nach der Gründung der Republik in quantitativer Hinsicht zum „dritten Lager“ herabgestuft, es blieb aber doch bis zum heutigen Tag – mit dem verhängnisvollen nationalsozialistischen Zwischenspiel – ein Faktor der österreichischen Innenpolitik.
Die weit linksstehende österreichische Sozialdemokratie übernahm mit der Person Karl Renners eine führende Rolle bei der Gründung der Republik. Durch ihre ideologische Radikalität vermochte sie das Aufkommen einer wirklich bedeutenden kommunistischen Bewegung zu verhindern. In Form des Proporz-Systems konnte sie in der Zweiten Republik eine tragende Rolle übernehmen, die ihren Höhepunkt in der Ära Kreisky fand.
Was schließlich das christlich-konservative Lager betrifft, so konnte dieses in der Person von Ignaz Seipel gemeinsam mit den deutschennationalen Parteien die demokratische Phase der Ersten Republik dominieren. Die ständestaatliche Diktatur, die dann Engelbert Dollfuß errichtete, stellt den autoritären, antidemokratischen Irrweg dieses Lagers dar. In der Zweiten Republik konnte die Volkspartei das erste Vierteljahrhundert prägen, um dann nach dem Zwischenspiel der Ära Kreisky wieder für drei Jahrzehnte mit zuregieren.
In den letzten beiden Jahrzehnten des vorigen Jahrhunderts erodierten diese drei politischen Lager allerdings. Einerseits kam es in allen Bereichen zu einer gewissen Entideologisierung, andererseits versuchten Persönlichkeiten aus den Randbereichen dieser drei Lager eigene politische Wege zu gehen. Dies äußerte sich in einer Reihe organisatorischer und wohl auch ideologischer Abspaltungen.
Im linken, austromarxistischen, sozialdemokratischen Lager war das neben der KPÖ jene Abspaltung, die der Gewerkschaftsführer und vormalige Innenminister Franz Olah konstituierte. Diese konnte der SPÖ zwar kurz schaden und die Errichtung der ÖVP-Alleinregierung unter Josef Klaus ermöglichen, letztlich aber scheiterte sie. Die Kommunisten selbst führten mit Ausnahme der unmittelbaren Nachkriegsjahre während der ganzen Zweiten Republik ein Schattendasein. Bis sie in Graz vor kurzem den Sessel des Bürgermeisters erobern konnten. Als Spätfolge der Achtundsechziger-Revolte konnte die Neue Linke die Ökologiebewegung vereinnahmen, um die grüne Partei zu gründen. Diese Grünen entwickelten sich zu einer linksextremen Kaderpartei, die auf der Basis der neuen Zivilreligionen, Political Correctness, Wokeness, Cancel Culture und Klimapolitik zu einer gesamtgesellschaftlichen Bewegung wurde, die einen nahezu totalitären Anspruch erhebt. Was das christlich-konservative Lager betrifft, so sind wohl die NEOS als Abspaltungsprodukt zu bezeichnen. Sie sind zumindest in wirtschaftspolitischer Hinsicht eher liberal-konservativ, gesellschaftspolitisch aber entsprechen sie dem linken Mainstream.
Die meisten Abspaltungen hat allerdings das national-freiheitliche Lager zu verzeichnen. Da ist einmal schon in den Sechziger-Jahren die Gründung der Nationaldemokratischen Partei durch Norbert Burger zu nennen. Diese endete mit einem polizeilichen Verbot. Keine wesentliche Wirkung entfalteten politische Splittergruppen wir die „Aktion Neue Rechte“ oder Otto Scrinzis „Nationalfreiheitliche Aktion“. Wesentlich größere politische Bedeutung hatte jene Abspaltung von der FPÖ, die Heide Schmidt mit dem „Liberalen Forum“ wagte. Aber auch dieses endete, ähnlich wie Jörg Haiders Abspaltung, das „Bündnis Zukunft Österreich“, nach wenigen Jahren parlamentarischer Aktivität in der politischen Bedeutungslosigkeit. All diese politischen Abspaltungs-Produkte änderten nichts daran, dass ÖVP, SPÖ und FPÖ die dominanten politischen Kräfte der Zweiten Republik bleiben.
Der Wähler ist in den letzten Jahren zunehmend volatil geworden. Da wandern Stimmen zwischen der Volkspartei und den Freiheitlichen in großem Umfang innerhalb kürzester Zeit hin und her. Jene 27 Prozent etwa, die Jörg Haider 1999 erreichte, wurden zwei Jahre später zu 42 Prozent für Wolfgang Schüssel. Und das, was Sebastian Kurz 2019 erntete, wird im nächsten Jahr wohl Herbert Kickl an Wähler-Zustimmung einfahren. Ähnlich verhält es sich innerhalb der linken Reichshälfte. Wenn die Sozialdemokratie, wie in unseren Tagen wegen der ungeklärten Führungsfrage schwächelt oder gar von Spaltung bedroht ist, profitieren die Grünen davon. Und wenn diese es mit ihrer paternalistischen Verbots- und Vorschriftspolitik übertreiben, deshalb geschwächt werden oder gar aus dem Nationalrat fliegen, stärkt das natürlich die SPÖ. Sowohl das linke Lager, als auch das bürgerliche, rechte stellen also so etwas wie kommunizierende Gefäße dar. Allerdings scheint es in Österreich eine linke Mehrheit seit dem Abtreten von Bruno Kreisky nicht mehr zu geben. Nach Kreiskys Abgang vermochte bekanntlich Jörg Haider einen Teil der ehemaligen sozialdemokratischen Wähler aus dem Bereich der Arbeitnehmer für die FPÖ zu vereinnahmen. Damit schuf er offenbar auf Dauer so etwas wie eine rechte, bürgerlich–freiheitliche Mehrheit im Lande.
Allerdings könnte sich die politische Landschaft in unseren Tagen grundlegend verändert. Die massiven Dissonanzen, die es gegenwärtig innerhalb der SPÖ gibt, scheinen auf eine weitere Spaltung des linken Lagers hinauszulaufen. Neben der traditionellen Sozialdemokratie, den Grünen und den erstarkenden Kommunisten könnte sich eine weitere Linkspartei etablieren. Diese vier Linksgruppierungen könnten gemeinsam – wenn sie aus ideologischen Gründen zur Zusammenarbeit fähig wären – kaum jemals über 50 Prozent der Wählerstimmen kommen. Sie wären nur in Kooperation mit einer der rechten oder liberalen Gruppierungen regierungsfähig.
Was das rechte, nationalliberale und konservative Lager betrifft, so dürfte sich eine Verschiebung des Schwergewichts auf Dauer in Richtung der Freiheitlichen ergeben. Die Volkspartei, die sich ursprünglich auf die katholische Soziallehre berufen hatte, leidet allein schon aus dogmengeschichtlicher Sicht massiv unter dem Bedeutungsverlust des Christentums. Die Freiheitlichen hingegen vermögen offenbar ihre plebiszitäre Politik auf alle Schichten der Bevölkerung auszudehnen, um solcherart so etwas wie eine Volkspartei neuen Typs zu werden. Eine Volkspartei, die einerseits Protest, andererseits grundlegend andere Politik-Ansätze glaubhaft zu vermitteln versteht.
Im Wesentlichen dürfte sich der alte Gegensatz zwischen links und rechts, wie er sich ursprünglich in moderater Form in der Zweiten Republik in der Konkurrenz zwischen christlich-konservativer Volkspartei und postmarxistischer Sozialdemokratie äußerte, auf den politischen Konflikt zwischen Freiheitlichen und Grünen fokussieren. Wobei die Grünen für eine apokalyptisch grundierte, tendenziell autoritäre Verbots- und Vorschriftspolitik stehen, wohingegen die Freiheitlichen einen nicht minder fundamentalistischen Populismus repräsentieren, der perpetuierten Protest der Bürger und gewissermaßen institutionalisierte Skepsis gegenüber Institutionen und politischen Abläufen artikuliert und kanalisiert.
Wie weit eine Veränderung der politischen Landschaft dieser Art auf Dauer tragfähig und konstruktiv für die weitere Entwicklung der rot–weiß–roten res publica sein kann, wird sich weisen. Aus der traditionellen Konsens-Demokratie, wie sie sich durch den rot–schwarzen Proporz in der Zweiten Republik konstituierte, wird damit zwangsläufig ein konfrontatives System. Um ein solches System der demokratischen Konfrontation friedlich und fruchtbringend zu gestalten, ist ein hohes Maß an demokratischer Reife auf beiden Seiten notwendig. Diese zu entwickeln, dürfte für das Land die Aufgabe der unmittelbaren Zukunft sein.

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