Vom Verlust liebgewonnener Feindbilder

Alljährlich, wenn der Herbst ins Land zieht, sich die Touristen verflüchtigen und frühmorgens Nebel über den Seen liegt, brechen im tiefen Süden der Republik, zwischen Karawanken und Hohen Tauern jene Tage an, an denen die Kärntner ihrer identitätsstiftenden Ereignisse gedenken: Abwehrkampf und Volksabstimmung – für die jüngere Generation so fern wie die Schlacht am Bergisel für die Tiroler und längst nicht mehr so umstritten wie in den 70er Jahren. Damals, in den Tagen des Ortstafelsturms, stand das Land tatsächlich am Rande des Bürgerkriegs. Die überfallsartig erfolgte Aufstellung von 205 zweisprachigen Ortstafeln in Unterkärnten, danach der Ortstafelsturm, in dem sich der Volkszorn, zweifellos verschärft durch die Agitation der Heimatverbände, aber auch das Wirken jugoslawischer Geheimdienst-Agents-Provocateurs bündelte, und schließlich als Begleitmusik zwischen 1970 und 1979 eine Reihe von Sprengstoffanschlägen, die nach Historikererkenntnissen in erster Linie wohl vom jugoslawischen Geheimdienst, wohl aber auch von Radikalen aus den Kreisen der Kärntner Slowenen verübt wurden.
Danach jahrelange Konfrontation und schließlich der Weg zum Dialog und den nunmehr geltenden Ortstafelgesetz. Dies sei ein „fauler Kompromiss“, konnten wir nun in einem Wiener Magazin lesen. Und jener Teil der Kärntner Slowenenvertreter, die den Weg zum Dialog und zum Konsens bislang verweigerten, fordern jene 205 Ortstafeln, die vor 50 Jahren durch den Ortstafelsturm verhindert wurden.
Aber aus den Reihen jener Heimatverbände, die in der Vergangenheit aus der linken Reichshälfte und wohl auch aus den Reihen der Kärntner Slowenen gewissermaßen als „postfaschistisch“ denunziert wurden, hört man plötzlich: warum nicht?

Da mochte zwar beim einen oder anderen Traditionsträger des Abwehrkampfes das Kärntner Herz empört schneller geschlagen haben, letztlich weiß man aber auch in diesen Kreisen, dass der Abwehrkampf vorbei und die Kärntner Urangst obsolet geworden ist. Und vice versa in jenem Teil der Slowenenorganisationen, die den Dialog bislang verweigerten, dürfte sich langsam das Bewusstsein breitmachen, dass die alten liebgewordenen Feindbilder, ganz konkret also die Kärntner Heimatverbände – Heimatdienst, Abwehrkämpferbund usw. – für die Aufrechterhaltung slowenischer Existenzängste auch nicht mehr so recht taugen. Nichtsdestotrotz bleibt es eine Tatsache, dass die slowenische Volksgruppe in Kärnten offenbar ungebremst schwindet. Da mochte bis tief in die Zweite Republik so etwas wie die von linker und slowenischer Seite vielbeklagte „deutschnationale Grundierung“ der Landespolitik quer über alle Parteien mitschuld gewesen sein. Das begann natürlich mit der für die Seite des SHS-Staates verlorenen Volksabstimmung vom 10. Oktober 1920. Es wurde fortgesetzt durch die nie eingehaltenen Versprechungen der Kärntner Landespolitik gegenüber den Slowenen in der Ersten Republik, um dann in der NS-Zeit in der massiven Diskriminierung, Zwangsdeportation und geplanten Auslöschung des slowenischen Elements in Kärnten seinen schrecklichen Höhepunkt zu finden. Und es setzte sich dieser Prozess in den ersten Jahrzehnten der Zweiten Republik insofern fort, als die Angst vor Tito-kommunistischen Gebietsansprüchen und die Erinnerung von Nachkriegsverbrechen der Partisanen in der Deutschkärntner Mehrheitsbevölkerung einen antislowenischen Reflex aufrechterhielt.
Spätestens aber mit dem Beginn der Konsensgespräche nach der Jahrtausendwende, dem Ende Tito-Jugoslawiens und der Gründung der neuen Republik Slowenien begann sich diese antislowenische Haltung im immer schmäler werdenden Bereichen der Deutschkärntner Mehrheitsbevölkerung aufzulösen. Heute existiert sie de facto nicht mehr. Dennoch geht das Schwinden der Volksgruppe weiter, obwohl es zum slowenischsprachigen Schulunterricht verstärkte Anmeldungen gibt. Was nicht mehr und nicht weniger heißt, als dass Kenntnisse der slowenischen Sprache nicht mehr eine Zugehörigkeit zur slowenischen Volksgruppe bedingen.
Heute sind es wohl sozioökonomische und soziokulturelle Nivellierungsprozesse, die diesen Schwund der Minderheit bedingen. Allein die Tatsache, dass es am flachen Lande den bäuerlich geprägten, kulturell stark der katholischen Kirche verpflichteten Bevölkerungsanteil nicht mehr gibt, dass die jungen Menschen verstärkt abwandern, junge Slowenen, die einen überproportionalen Akademikeranteil aufweisen, verstärkt in Wien, Graz oder gar im Ausland beruflich tätig sind, allein diese Tatsachen bedingen ein Ausdünnen der Volksgruppe. Damit gibt es so etwas wie ein geschlossenes Siedlungsgebiet längst nicht mehr.
Dies ist ein Prozess, dem die meisten ethnischen Minderheiten quer durch Europa ausgesetzt sind. Zumeist ist die Erhaltung der Minderheitensprache so etwas wie ein artifizieller Prozess, da beispielsweise die slowenischen Kinder im slowenischen Gymnasium in Klagenfurt untereinander wohl häufiger Deutsch als Slowenisch sprechen. Bei den Ungarndeutschen lernen die Jungen Deutsch meist erst in der Schule und längst nicht mehr im Elternhaus. Nun gab es in jüngster Zeit auch die Debatte im Hinblick auf slowenische Flurnamen, über die Bezeichnung von Flüssen, Seen, Bergen. Es war der slowenische Botschafter, der einen diesbezüglichen Mangel beklagte. Und auch in diesen Fragen ist quer über Kärnten so etwa wie eine neue Gelassenheit erkennbar. Die Gemüter entzünden sich nicht mehr darüber. Wer die Villacher Alpe „Dobratsch“ nennt und den Turnersee „Sablatnigteich“, der soll dies getrost tun. Auch im Bereich dieser Flurnamen ist es allenfalls so etwa wie ein Sichtbarmachen der Volksgruppe und der slowenischen Kultur, wenn auch vielenorts nur mehr so etwas wie ein historischer Hinweis, da dort slowenisches Leben nur mehr in Restbeständen oder überhaupt nicht mehr existiert.
Damit aber wirft sich die Frage auf, wie man eine schwindende ethnische Minderheit in unseren Tagen in Europa erhalten, stabilisieren und auch stärken kann. Der Anspruch auf ein geschlossenes Siedlungsgebiet ist es wohl nicht mehr. Und der romantische Traum, Teile jener Bevölkerung, die Generationen zuvor möglicherweise Slowenen waren und zweifelsfrei slowenische Wurzeln haben, durch den Spracherwerb – zweisprachige Schulen – zurück zum slowenischen Volkstum zu führen, also so etwas wie eine Re-Slowenisierung durchzuführen, ist wohl auch Illusion.
Wie also kann die slowenische Volksgruppe, jener so wichtige Teil der Kärntner Identität, erhalten und in die Zukunft geführt werden? Vielleicht gar nicht! Das aber kann nur eine Antwort sein für Kräfte, denen nationale und kulturelle Identität nichts bedeutet, die keinen Wert darin sehen.Klar ist, dass eine kleine, einem Schrumpfungsprozess ausgesetzte ethnische Minderheit überproportionaler Förderung bedarf. Ihr soziales und ihr kulturelles Leben braucht materielle und auch moralische Unterstützung, wobei eben überproportionale finanzielle Förderung häufig im Umfeld der Mehrheitsbevölkerung für Unwillen sorgt. Diesbezüglich für Verständnis zu werben und Neidreflexe zu unterbinden, wäre einmal eine zentrale Aufgabe. Eine andere ist der Respekt gegenüber historischem Kulturgut, welches auf der Existenz jener Ethnie und jener Kultur beruht, die die Minderheit generiert hat. Das Sichtbarmachen der ethnischen Minderheit durch den Gebrauch historisch gewachsener, der Minderheit zuzuordnender topographischer Bezeichnungen ist ein weiterer Baustein für die Erhaltung einer solchen Volksgruppe. Und ein weiterer, wahrscheinlich der wichtigste Baustein, ist die Wertschätzung der Minderheit. So wie einst sozialer Aufstieg und wirtschaftlicher Erfolg im Siedlungsgebiet der Minderheit häufig mit dem Identitätswechsel vom Slowenischen bzw. einstmals Windischen in die deutsche Kultur bedeutete, könnte in unseren Tagen und in künftigen Zeiten so etwas wie ein transnationales Bekenntnis, eine bipolare Identität als Kennzeichen einer besonderen Bildung und sogar eines herausgehobenen sozialen Status sein: Verwurzelt in deutscher Muttersprache, sich seiner teilweise slawischen Wurzeln bewusst und auch der damit verbundenen slowenischen Sprache, nutzbar überdies im Alpen-Adria-Raum als wichtige Sprache eines Nachbarstaats.
In der Tat wäre dies wohl nur möglich für äußerst bildungsaffine Schichten, da sonst eher das Phänomen des „Bilinguismus“ schlagend würde, wonach der Träger in keiner der beiden Sprachen wirklich beheimatet wäre. Die Erhaltung jenes Teils der Kärntner Identität, die auf ihren slowenischen Wurzeln fußt, wird jedenfalls mit alten nationalistischen Konzepten wie jenem eines geschlossenen ethnischen Territoriums nicht mehr aufrechtzuerhalten sein. Es könnte mehr Hinwendung vom Territorialprinzip zum Personalitätsprinzip sein, wie sie in Arbeiten zur nationalen Frage von sozialistischen Theoretikern wie Otto Bauer, Karl Renner in der Monarchie – kurioserweise auch von Josef Stalin – entwickelt wurden. Nicht das Territorium ist es, aufgrund dessen Zugehörigkeit man einer ethnisch-kulturellen Gruppe angehört, sondern das persönliche Bekenntnis. Und dieses kann beispielsweise für den Kärntner Slowenen genauso abgeben in Eisenkappel wie in Wien oder Graz werden und er wird deswegen keine topographischen Bezeichnungen für den Kahlenberg oder den Grazer Schlossberg in seiner slowenischen Muttersprache einfordern. Und auch dann, wenn er seinen Lebensmittelpunkt in Wien oder in Berlin hat, wird er wissen, dass die „Koschuta“ und der „Dobratsch“ ihre Namen seinen Kulturkreis verdanken.
Alter Nationalitätenstreit, wie er aus der Monarchie über die schreckliche Periode der beiden Weltkriege bis zu uns herauf tradiert wurde, ist jedenfalls obsolet. Und jene, die diesen Streit perpetuieren wollen im Glauben, dass nur der Konflikt das Bewusstsein der Zugehörigkeit zu ihrer ethnischen Minderheit a wach halten kann, jene also, die die alten Feindbilder um jeden Preis weiter erhalten wollen, müssen sich das Prädikat „ewiggestrig“ gefallen lassen. Kärnten, und damit seine Identität im Bereich der Deutschkärntner Mehrheitskultur und der slowenischen Minderheitskultur muss neu gedacht werden und die alten Konflikte gehören in die Schublade der Historisierung.

Hinterlasse einen Kommentar