Vom Antlitz unseres Landes

Über Zersiedelung, ­Bodenversiegelung und Bau-Unkultur

Was aus der Naturlandschaft Kulturlandschaft macht, ist das Einwirken des Menschen. Er kultiviert Urwälder, liegt Sümpfe trocken, macht aus der urwüchsigen Landschaft jenes Landschaftsbild, das aus Wiesen, Äckern, Fluren und Forsten besteht. Der wesentlichste Faktor der Kulturlandschaft sind allerdings die menschlichen Bauten. Die Behausungen, die der Mensch im Zuge seiner Geschichte für sich errichtete, die Siedlungen, die anlegten Dörfer, Märkte und Städte, sie prägen, was wir heute Kulturlandschaft nennen. Sie prägen das Antlitz eines jeweiligen Landes. Und sie sind auch charakteristisch für das betreffende Land und die jeweilige Geschichtsepoche, aus der sie stammen.
Wir kennen den historischen Ablauf und die Entwicklung unserer heimischen Kulturlandschaft. Da waren zuerst wahrscheinlich Pfahlbauten und einfache Hütten, von denen kaum etwas geblieben ist. Keltische Siedlungen haben kaum etwas hinterlassen. Erst die Römer bauten auf eine Art und Weise, die bleibende bauliche Reste zeitigen. Und dann, nach den dunklen Jahrhunderten kam die fränkische Zeit, die bereits feste Bauwerke hinterließ, danach Romanik und Gotik. Aus diesen Epochen sind uns Kulturbauten überliefert, die zu den größten Kunstschätzen unseres Landes zählen. Romanische und gotische Dome, Burgen und Schlösser, aber auch Städte sind Teil unserer Kulturlandschaft und gehören zu den größten Attraktionen, auf die wir bis heute stolz sind.
Danach kann die Renaissance, das Barock, Rokoko, schließlich das Biedermeier und die Gründerzeit. Diese Epochen hinterließen Baudenkmäler, welche die Kulturlandschaft bis heute prägen. Darauf folgten die Verwerfungen der beiden Weltkriege und die entsprechende Bautätigkeit. Schließlich kam es zu den sozialen Wohnbauten der Zwischenkriegszeit, zur Siedlungstätigkeit in der Nachkriegszeit und letztlich zu den zeitgenössischen Bauten.
Und da wirft sich die Frage auf, ob es noch Kulturlandschaft ist und nicht vielmehr bereits Landschaftszerstörung. Unser Land, das von der Naturlandschaft her zu den schönsten Gebieten des Planeten zählt, mit seinem gemäßigten Klima und der üppigen Flora, wurde in den vergangenen Jahrzehnten durch Zersiedelung, insbesondere der Ballungsräumen, gewissermaßen wie mit Pilzbefall überwuchert. Im Speckgürtel der Großstädte entstanden chaotische Wohngebiete. Auch auf dem flachen Lande, in den Tälern des Landes, entstanden weitere eher planlos angelegte Siedlungen, die nicht mehr den Charakter geschlossener Dörfer annahmen, sondern nur wegen der Individualmobilität durch die massenhafte Nutzung von Kraftfahrzeugen denkbar waren.
In Zeiten, in denen man auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen war, oder auf die Kräfte der eigenen Beine, um zur Arbeit zu kommen, war es unmöglich, so dezentral zu siedeln. Durch den Individualverkehr wurde dies möglich, was letztlich diese Zersiedelung zeitigte. Überdies entstanden im Weichbild der Ballungsräume und der größeren Städten Wohnanlagen, die den Menschen eigentlich in eine Art von Termitenexistenz zwangen. Nicht ganz so drastisch wie es etwa in Asien, beispielsweise in Hongkong existiert, wo in gewaltigen Hochhäusern mit etwa einhundert Stockwerken bis zu fünftausend Menschen in einem Gebäude leben, aber doch vom Charakter her, an einen Ameisenstaat erinnernd.
Dass Menschen, die in solchen Bauten leben, schlicht und einfach andere psychische Eigenheiten entwickeln als ihre Artgenossen, die beispielsweise auf dem Lande in Bauerngehöften leben, steht außer Frage. Das extremste Beispiel für derlei Wohnbau sind zweifellos die Plattenbauten aus dem ehemaligen kommunistischen Bereich Osteuropas. Während der soziale Wohnbau in der Zwischenkriegszeit, beispielsweise die Gemeindebauten des „Roten Wien“ noch die nötige Infrastruktur für das menschliche Zusammenleben mitgeplant hatte, sind die Wohnbausiedlungen der Nachkriegszeit und unserer Gegenwart häufig nur noch Schlafsilos, von denen die Menschen dann zur Arbeit zu pendeln haben.
Hand in Hand mit dieser Zersiedlung geht naturgemäß die Versiegelung der heimischen Böden. Im Alpenraum, der ohnedies wenig bewohnbare Fläche aufweist, da die Gebirgslandschaft dominiert, ist diese Zersiedelung besonders bedenklich. Fruchtbare Böden werden dadurch immer seltener, die agrarische Selbstversorgung der Bevölkerung wird nahezu unmöglich. Diese Versiegelung der Böden ist auch ökologisch höchst bedenklich, da Naturkatastrophen wie Hochwässer die unmittelbare Folge sind. Und die Funktion des Grünlandes als grüne Lunge für die Menschen wird mit der Zersiedelung auch immer weiter zurückgedrängt.
Hand in Hand gegangen mit diesen bedenklichen Entwicklungen ist in den letzten Jahrzehnten auch ein Verfall des Baustils. Generationen von zeitgeistigen Architekten haben es geschafft, einen chaotischen Mix von Baustilen im Lande zu etablieren, der allen ästhetischen Kriterien widerspricht.
Während Generationen von Baumeistern, Maurern und Zimmerleuten sich über Jahrhunderte als Handwerker verstanden, die diese Bausubstanz, von der wir heute noch zehren, schufen, verstehen sich unsere zeitgenössischen Architekten als Künstler. Und Künstler streben bekanntlich danach, sich primär selbst zu verwirklichen. Dies bedingt so etwas wie einen Zwang zur Originalität und zur Verachtung historischer Traditionen. Überdies wurden die Kriterien der Ästhetik weitgehend vermeintlichen Sachzwängen und der Nützlichkeit geopfert. Jene Glas-Stahlkästen und Betonburgen, die die heutige Architektur dem Lande schenkt, werden gewiss nicht in die Kunstgeschichte eingehen. Und sie werden zweifellos nicht in einer Reihe stehen mit gotischen Domen, barocken Schlössern und den Bürgerhäusern der Gründerzeit.
Auch hat die zeitgenössische Architektur bei ihrer Bautätigkeit im Lande große städtebauliche Konzeptionen vergessen. In den meisten zeitgenössischen Wohnsiedlungen gibt es kaum Infrastruktur, die das soziale Zusammenleben der Menschen fördern könnte. So entstanden Wohnsitzsilos, aber keine neuen Dörfer. Und rund um unsere Städte ballen sich die Gewerbe- und Industriezonen mit hässlichen Nutzbauten, Wellblechhallen und Tankstellen. Da wo sich früher mittelalterliche Städte mit Stadtmauern rund um eine hoch aufragende Kirche gruppierten, finden sich heute hässliche Vorstädte mit Wohnsilos und einförmigen Gewerbezentren.
Der Denkmalschutz wird im Lande einerseits allzu streng und allzu wörtlich genommen, wobei der Wiederaufbau alter Bauten geradezu untersagt wird, während auf der anderen Seite modernistische Stilbrüche in historischen Bau-Ensembles geduldet werden.
Solcherart wird unsere Kulturlandschaft mit ihrer historischen Bausubstanz nach und nach zerstört, während im Bereich des zeitgenössischen Bauens kaum etwas Ansprechendes und Zeitloses hinzukommt. Ein schönes Land, wie es unsere österreichische Heimat ist, mit einer wunderbaren Naturlandschaft, wird solcherart durch eine sich wie Pilzbefall ausbreitende und immer hässlicher werdende Verbauung zerstört. Kulturlandschaft vermag man das kaum mehr zu nennen.

1 Responses to Vom Antlitz unseres Landes

  1. […] Andreas Mölzer: Vom Antlitz unseres Landes Seite 40–41 […]

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