Im Zeitalter des Realitätsverlusts

Beginnt ein neues Zeitalter des Irrationalen?

Was war man stolz darauf in Zeiten der Aufklärung, der offenen Gesellschaft und der liberalen wissenschaftlich fundierten Weltsicht zu leben. Das finstere Mittelalter, wir hatten es hinter uns gelassen, ebenso die Zeiten der fundamentalistisch motivierten Religionskriege und auch das 20. Jahrhundert mit seinen totalitären Ideologien, dem Faschismus und dem Sowjetkommunismus. Und mit dem Zusammenbruch des real existierende Sozialismus wähnte man gar für kurze Zeit das Zeitalter des ewigen Friedens sei angebrochen. Das Ende der Geschichte wurde proklamiert und der globale Sieg der liberalen Demokratie. Zwar versuchte die einzig verbliebene Supermacht, die Vereinigten Staaten von Amerika nämlich, letzteres weltweit durchzusetzen, beziehungsweise diese liberale Demokratie zumindest zum Maßstab für jegliche Staatlichkeit rund um den Erdball zu machen. Wie wir heute wissen, ein vergebliches und wohl auch ein unsinniges Ansinnen. Und was die offene Gesellschaft und die angebliche fortschrittliche Aufgeklärtheit der selbigen betrifft, so zeigt sich zunehmend, dass diese offene Gesellschaft zunehmend von den Maximen der Political Correctnes reguliert wird und dass statt Aufklärung im immer stärkeren Maße neue Dogmen dominieren, die sich aus zeitgeistig modischen Strömungen wie Feminismus, Gendern, Black lives Matter, „Wokeness“ und ähnlichen Schwachsinn ergeben. Und so kann sich bei näherer Betrachtung sehr rasch der Eindruck ergeben, dass wir keineswegs in einem aufgeklärten Zeitalter leben, sondern viel mehr am Beginn einer Epoche des Irrationalen stehen.
Am Anfang desselben steht einmal der „neue Mensch“, wie ihn die Linke seit der Französischen Revolution, über den Marxismus bis hin zu Frankfurter Schule konzipiert hat und auch realisieren will – wenn es ein muss mit Gewalt. Dieser „neue Mensch“, der die menschliche Natur, wie sie sie im Zuge der Evolution entwickelt hat, mit all ihren Tiefen und Untiefen schlicht negiert, wurde überall dort, wo man eben gewaltsam umzusetzen versuchte, zur Quelle von Totalitarismus und Genoziden. Deutlich wurde dies schon in der mörderischen Phase der Französischen Revolution, wo Tausende ihr Haupt unter die Guillotine legen mussten. Evident ist dies auch im Falle der mörderischen Politik Josef Stalins in der Sowjetunion, ebenso wie im Steinzeitkommunismus eines Pol Pot oder in der Kulturrevolution Mao Zedongs.
Aber nicht nur der „neue Mensch“ in der klassenlosen Gesellschaft des real existierenden Sozialismus war es, der solche Ungeheuerlichkeiten gebar. Auch der „neue Mensch“ arischen Geblüts, geboren aus Rassenwahn und Herrenmenschenideologie, sollte zur Quelle schrecklicher Gräuel werden. Weltkrieg und Genozid waren die Folge. Die Leugnung der menschlichen Natur, die mit der Konzeption des „neuen Menschen“ Hand in Hand ging, deutete bereits einen Schritt hin zur Irrationalität. Wer glaubt, in der Attitüde von Sozialingenieuren die Gesellschaft verändern zu können, indem er den Menschen in seinen Stärken und Schwächen, in seinen Bedürfnissen und Fähigkeiten ignoriert, ja negiert, und anstelle der menschlichen Psychologie und Biologie ideologische Vorgaben zum Maß aller Dinge macht, muss letztlich zu Mitteln der Gewaltherrschaft und zum Ignorieren der Realität greifen, um seine Zielvorstellungen durchzusetzen. Ein Unterfangen, das im vorigen Jahrhundert leidvoll gescheitert ist, wie wir am NS-Faschismus, aber auch am Sowjetkommunismus unschwer zu erkennen vermögen. Die Technikfeindlichkeit und das Ignorieren naturwissenschaftlicher Erkenntnisse, wie es als Gegenbewegung der absoluten Technikvergötzung nach der industriellen Revolution entstanden ist, stellen einen weiteren Schritt hin in ein Zeitalter des Irrationalen dar. Wenn man nach der industriellen Revolution und im Zuge der Entwicklung immer neuer und leistungsfähigerer Technologien geglaubt hat, dass mit Technik alle Probleme der Menschheit zu lösen wären, so hat sich in den letzten Jahrzehnten gewissermaßen als Gegenbewegung dazu so etwas wie eine Ideologie der Technophobie, der Technikfeindlichkeit entwickelt. Träger dieser irrationalen und ideologisierten Bewegung sind die diversen Grünparteien, die sich quer durch Europa konstituiert haben. Die neue Linke, die aus der 68er-Bewegung entstanden ist, hat schnell die Anti-Atomkraft-Bewegung für sich vereinnahmt. Aus der Anti-Vietnam-Bewegung entstand die Friedensbewegung, die überdies gegen die militärische Nutzung von Nuklearwaffen auftrat. Auf der Basis dieser Bewegungen entwickelten sich die Grünparteien, die in den 80er-Jahren dann so stark waren, dass sie in die jeweiligen Vertretungskörper und Parlamente einzogen. Ursprünglich war Umwelt- und Naturschutz eher eine Domäne wertkonservativer Gruppen. Dass just die ostmarxistische Linke ihre tiefrote Ideologie mit einem grünen Mäntelchen zu tarnen verstand, stellt gewissermaßen eine Ironie der Geschichte dar.
Die daraus resultierende allgemeine Technikfeindlichkeit, gepaart mit einer gewissen allgemeinen Wachstums- und Fortschrittskritik, bedingt eine weitere Hinwendung zur Irrationalität. Einerseits nahmen gerade die Grünen alle Segnungen des technischen Zeitalters und die Vorteile einer hochtechnisierten Zivilisation für sich in Anspruch, andererseits wurden moderne Technologien zunehmend dämonisiert. Überdies verstärkte sich in diesen Kreisen ein tiefgehendes Unverständnis für das Funktionieren von Technik selbst. In Unkenntnis und Ignoranz der Naturgesetze haben in diesen Bereichen Gesellschaftsschichten das Reden, die schlicht und einfach nicht mehr nachvollziehen können, wie und warum die Dinge funktionieren, auf welcher Basis technische Funktionen ablaufen. Man drückt den Schalter und das Licht geht an. Warum das so ist, weiß man nicht. Solcherart hat sich eine Art Wundergläubigkeit eingenistet, die jener gleicht, welche Steinzeitmenschen im Hinblick auf Naturereignisse gehabt haben dürften: Man versteht nicht, was geschieht, glaubte seinerzeit an höhere Mächte und heute an die Selbstverständlichkeit einer hochtechnologischen Zivilisation.
Dazu kommt ein weiterer Faktor, der den Realitätsverlust in unserer Gesellschaft befördert: die zunehmende Geschichtsvergessenheit. Um politische, ökonomische und gesellschaftliche Zusammenhänge verstehen und beurteilen zu können, bedürfte es tiefergehender Kenntnisse der historischen Entwicklung. Gerade aber in jenen Gesellschaftsschichten, die sich auf der Höhe des Zeitgeists sehen und deren politisch korrekte Zivilreligion der Hedonismus ist, üben in Bezug auf Geschichtswissen bewusste Informationsaskese. Dies nicht um unbeeinflusst zu eigenen Erkenntnissen zu kommen, sondern aus Ignoranz. So wie man die wahre Natur des Menschen, wie sie biologisch und psychologisch gegeben ist, zu ignorieren versucht, versucht man auch die Geschichte des Menschengeschlechts auszublenden im Glauben, dass man heute im Hier und Jetzt klüger ist als all die Generationen vor uns. Die Feststellung des Philosophen wonach jeder, der seine Geschichte nicht kennt dazu verdammt ist, sie erneut zu durchleiden, ist den Trägern des neuen irrationalen Zeitalters völlig fremd. Sogar die Gesetzlichkeiten des dialektischen Materialismus, wie wir sie seit Marx und Engels kennen, ist da völlig aus dem politisch-gesellschaftlichen Bewusstsein verschwunden. Man ist zwar zeitgeistig links, die Kenntnis der Geschichte aber glaubt man dennoch vergessen zu können.
Im Wesentlichen also sind es jene drei Phänomene – das Ignorieren der biologischen und psychologischen conditio humana durch das Streben des „neuen Menschen“, die Technikfeindlichkeit und Ignoranz der physikalischen und chemischen Naturgesetzen und die Geschichtsvergessenheit – die den Weg in ein neues in hohem Maße irrationales Zeitalter bedingen. Welch unheilvolle Folgen dieser gesamtgesellschaftliche Realitätsverlust noch nach sich ziehen wird bleibt abzuwarten. Wenn der Humanismus, die Aufklärung und die umfassende naturwissenschaftliche Forschung die Menschheit im Zuge ihrer kulturellen Evolution in lichte Höhen zu führen vermochte, wird uns das neue Zeitalter des Irrationalen mutmaßlich Gefahren aussetzen, die wir längst überwunden glaubten.

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