Zeitenwende für Europa

Läutet der Ukrainekrieg eine neue historische Epoche ein?

Ein gutes Vierteljahrhundert hatte Europa mit geringfügigen Ausnahmen ganz realen Frieden. Nach dem Ende des Kalten Krieges und der bipolaren Weltordnung mit dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus und des Warschauer Pakts waren es nur die Geburtswehen der Nachfolgestaaten und der damit verbundenen kriegerischen Auseinandersetzungen, die den Frieden störten. In Osteuropa ging dies verhältnismäßig friedlich über die Bühne, selbst die staatliche Trennung zwischen Tschechen und Slowaken verlief völlig unblutig. Einzig am Balkan führte das Auseinanderbrechen Tito-Jugoslawiens zu Sezessionskriegen insbesondere zwischen Serben und Kroaten, die bis Mitte der 90er andauerten. Seitdem aber schwiegen die Waffen und der alte Kontinent wähnte sich offenbar im Glauben an den Ausbruch des ewigen Friedens.
Ermöglicht wurde dieser Frieden in Europa und die damit verbundene Osterweiterung der Europäischen Union durch die Schwäche Russlands. Unter Boris Jelzin kam es nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion auch zur Erosion des russischen Vielvölkerstaats. Das Ergebnis war, dass von etwa 140 Millionen ethnischen Russen 20 Millionen außerhalb der russischen Grenzen lebten. Ein Zustand, von dem von Anbeginn an klar sein musste, dass er im Falle des Wiederaufstiegs des größten Flächenstaats der Erde nicht hingenommen werden würde.
Die EU-Osterweiterung und die darauf folgende Aufnahme der baltischen Staaten, Polens, Tschechiens, der Slowakei, Rumäniens und Bulgariens in die NATO war aber ein klares Signal gegenüber dem Kreml, dass ein Wiederaufleben des Sowjetimperiums oder gar des Warschauer Pakts absolut undenkbar wäre. Davon allerdings nicht wirklich betroffen waren vorwiegend russisch bewohnte Territorien im grenznahen Umfeld Russ­lands wie im Kaukasus, in Moldawien und eben in der Ostukraine.
Dass nun just die Problematik um die eher russisch dominierte Ostukraine Auslöser und Vorwand für den Angriffskrieg Putins gegen den ukrainischen Gesamtstaat sein sollte, konnte man bis vor wenigen Tagen nicht ahnen. Die großrussische Logik allerdings, die auch Wladimir Putin zu eigen ist, wonach die Ukrainer eben „Kleinrussen“ wären, das Land selbst ein Kernbereich der russischen Geschichte darstelle und der bevölkerungsmäßige Rückgang der ethnischen Russen, nur durch eine Vereinigung mit den mehr als 30 Millionen Ukrainern möglich sei. Diese großrussische Logik bedeutet eigentlich, dass der gegenwärtige Angriff auf die Ukraine wenig überraschend war.
Damit ist nun jedenfalls jene Entwicklung endgültig beendet, die es in den späten 90er Jahren und in den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts gegeben hatte. Im Zuge der es so schien, als könnte das neue Russland einen Demokratisierungsprozess durchmachen und damit auch eine Annäherung an EU-Europa erreichen. Damals gab es ja auch eine Denkschule, die von einer Europäisierung des Nordatlantikpakts ausging, einer Emanzipation gegenüber den US-Amerikanern und der Schaffung eines eigenen europäischen Sicherheitssystems.
Solcher Art hätte man eine Partnerschaft mit dem neuen Russland entwickeln können, um eine eurasische Achse mit einem gemeinsamen Wirtschaftsraum zu schaffen. Gerade der neue Präsident Putin schien in seinen ersten Regierungsjahren diese Hoffnung zu bestärken. Der Wiederaufstieg Russlands allerdings zu einer global agierenden Weltmacht und die innerrussische Entwicklung hin zur Autokratie, ließen diese europäisch-russische Perspektive zunehmend verkümmern. Nunmehr mit der Dupierung der beiden starken Männern der EU, des französischen Präsidenten Macron und des deutschen Bundeskanzlers Scholz im Vorfeld des Ukrainekriegs durch Putin und nach dem Entfesseln des Angriffskriegs dürfte jede europäisch-russische Kooperation oder gar Allianz mittel- und langfristig undenkbar zu sein.
Diese Erkenntnis mit dem gleichzeitigen Wissen, dass die Weltmacht USA seit ihrem überstürzten Abzug aus Afghanistan vergangenem Sommer auch militärisch im Rückzug ist, könnte aber für die Europäer innerhalb der Union aber tatsächlich so etwas wie einen politischen Paradigmenwechsel, eine Zeitenwende bedeuten. Diese deutete sich bereits im Agieren der Berliner Regierung an.
Wenn ausgerechnet die Links-Regierung unter dem SPD-Kanzler Scholz bereit ist, Waffen an ein kriegsführendes Land zu liefern und gleichzeitig die ungeheure Summe von 100 Milliarden Euro in den rasche Ausbau der eigenen Armee investieren will, könnte dies der Startschuss für eine massive Wiederaufrüstung des Militärpotenzials der Europäischen Union bedeuten. Gegenwärtig wären die EU-Staaten gegenüber einer Aggression von außen, etwa durch die russische Armee, ja keineswegs in der Lage, sich selbst und alleine zu verteidigen. Obwohl Frankreich nach wie vor eine Atommacht ist, ebenso wie England, das durch den Brexit ja aus der Union ausgeschieden ist, könnte man dem russischen Militärpotenzial sowohl im konventionellen Bereich, als auch im nuklearen Bereich nur wenig entgegenstellen. Man wäre also nach wie vor auf den amerikanischen Beistand angewiesen.
Die Europäische Union als „soft power“ muss gegenwärtig allerdings erkennen, dass sie nur mittels der relativ stumpfen Sanktions-Waffe in der Lage ist, gegen Aggressoren zurückzuschlagen. Das geradezu dogmatisch geltende Prinzip, wonach ein Landkrieg in Europa im neuen Jahrhundert undenkbar wäre, ist allerdings obsolet geworden, weshalb die EU gezwungen sein dürfte, auch eine eigene militärische Option zu entwickeln. Bis allerdings die osteuropäischen und die ostmitteleuropäischen Mitgliedsländer der Europäischen Union bereit sein werden, sich ohne der Rückendeckung der US-Amerikaner auf eine solche europäische Militärmacht zu verlassen, dürfte es dauern. Die gegenwärtige russische Bedrohung, etwa für die baltischen Staaten oder Polen, zumal wenn diese auch eine nukleare Bedrohung ist, kann zum jetzigen Zeitpunkt nur mit US-amerikanischer NATO-Unterstützung zurückgewiesen werden. Bis ein europäisches Sicherheitssystem dazu in der Lage sein wird, wird es sicher dauern und es bedarf überdies immenser finanzieller und logistischer Anstrengungen. Noch ist eine europäische Armee, in deren Zentrum starke Landstreitkräfte der deutschen Bundeswehr, assistiert von den französischen Nuklearstreitkräften mit einer gemeinsamen Luftwaffe stehen, Zukunftsmusik. Die neue Großmachtkonfrontation aber, die durch die russische Aggression zweifellos gegeben ist, erfordert von der Europäischen Union genau diese Anstrengungen. Wenn man weiter bloßes Anhängsel der US-Amerikaner innerhalb der NATO bleibt, wird man zukünftig zum Spielball dieser Großmachtinteressen und allenfalls zum Schlachtfeld in einem Konflikt der Zukunft werden. Genau diese Situation kennen wir zwar aus dem Kalten Krieg und aus der Konfrontation zwischen NATO und Warschauer Pakt, sie aber für die Zukunft zu vermeiden, muss die Lehre aus der gegenwärtigen Kriegssituation rund um die Ukraine sein.
Sollte das russische Vorgehen in der Ukraine von Erfolg gekrönt sein und diese wiederum zu einem russischen Satellitenstadt herabsinken, so kann Europa doch – mit weit nach Osten vorgeschobenen Grenzen, eben der Ostengrenzen der baltischen Staaten, Polens, der Slowakei, Ungarns, Rumäniens und Bulgariens – einen europäischen Machtblock bilden, der den imperialen russischen Ambitionen durchaus Paroli bieten könnte.
Gegenüber den diktatorischen Regimen in Moskau und in Peking könnten dann die beiden demokratischen Großmächte, die Europäische Union und die USA auf der nördlichen Halbkugel des Planeten ein glaubwürdiges Gegengewicht bilden. Dies kann nicht zurückführen zu jenem „Gleichgewicht des Schreckens“, das die bipolare Wertordnung der Supermachtkonfrontation im Kalten Krieg darstellte, es wird vielmehr Teil einer multipolaren Weltordnung sein, in der Europa seine eigenen Interessen, nicht nur ökonomisch und diplomatisch, sondern auch militärisch wird wahren müssen. Für die Europäische Union aber könnte dieser Angriffskrieg in der Ukraine ein Weckruf sein.

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