Der Homo Austriacus

Von Nörglern, Nebochanten und Leidgenossen und einem begnadeten Menschenschlag

Der Österreicher – wer ist das? Was zeichnet ihn aus und wodurch unterscheidet er sich von seinen europäischen Nachbarn? Gibt es ihn überhaupt als kulturellen Phänotypus, oder gibt es nur Steirer und Kärntner, Tiroler, Salzburger und Wiener? Und ist dieser Österreicher in unseren Tagen derselbe wie der in der Monarchie oder jener in kommenden Jahrzehnten? Welche guten Eigenschaften hat er, welche schlechten?
Fragen über Fragen, die natürlich nur mittels Klischees beantwortet werden können. Solche Klischees, die aus Pauschalurteilen, bisweilen sogar aus Vorurteilen bestehen, haben die merkwürdige Eigenschaft, dass sie im Einzelfall nie zutreffen, insgesamt aber doch mehr Wahrheit transportieren, als man glauben kann. Halten wir uns also an die Klischees!
Da wäre einmal das Klischee, dass die Österreicher ein freundliches Volk wären. Als Tourismusland bieten sie ja „Urlaub bei Freunden“ an, und schon aus Geschäftsgründen müssten sie liebenswürdig, freundlich und zuvorkommend gegenüber ihren Gästen sein. Man braucht sich allerdings nur an Mitterers „Piefke-Saga“ erinnern, um zu wissen, von welcher Qualität diese Freundlichkeit ist. Wer sich überdies vergegenwärtigt, mit welcher Inbrunst Touristen etwa am Ende der jeweiligen Saison verabscheut werden, weiß dies ebenso. Und wenn die vorgebliche Liebenswürdigkeit der Österreicher historisch aus dem Bereich der Habsburger Monarchie begründet wird, bleibt bei näherer Betrachtung auch nicht sehr viel übrig. Der Mythos von Sisi und Franzl wirkt eher hohl, wenn man bedenkt, mit welcher Brutalität etwa die Truppen des jugendlichen Kaisers Franz Joseph im Jahr 1848/49 den ungarischen Aufstand niedergeknüppelt haben – oder auch die Wiener Revolution. Das Bild von Mozartkugeln und Lipizzanern von der Insel der Seligen, bevölkert von weintrinkenden und lederbehosten Jodlern, ist sogar den Österreicher selbst längst fremd geworden.
Nächstes Klischee: Die Österreicher seien weltoffen und tolerant. Wer allerdings all die „Kosenamen“ bedenkt, mit denen die Österreicher ihre Nachbarn titulieren, kann rasch zur Ansicht kommen, dass von dieser Weltoffenheit und Toleranz wenig zu spüren ist. Da gibt es einmal die „Piefkes“, die man von Herzen verabscheut. Dann die „Katzelmacher“, denen man ein gebrochenes Verhältnis zur Unantastbarkeit des persönlichen Eigentums nachsagt. Dann die sogenannten „Tschuschen“, worunter man gleich alle Balkanvölker samt und sonders qualifiziert. Dann natürlich „Kümmeltürken“ und ähnliches bis hin zu den unsäglichen Resten antisemitischer Klischees. Natürlich sind diese Vorurteile gegenüber benachbarten Völkern und Kulturen historisch bedingt und zum großen Teil vor langen Generationen entstanden. Sie halten sich allerdings mit großer Beständigkeit und stellen der Weltoffenheit der Österreicher ein schlechtes Zeugnis aus. Unbestritten ist allerdings dennoch, dass es in Österreich noch aus Zeiten der Donaumonarchie herreichend ein gewisses Verständnis für die slawischen, die romanischen und die magyarischen Kulturen gibt, hat man doch selbst einen Teil der daher stammenden Einflüsse rezipiert und zu jenem Kulturmix gemacht, der eben typisch österreichisch ist.
Damit ist man schon beim nächsten Klischee: Die Österreicher sind alles, nur keine Deutschen. Da gibt es dann den Scherz, wonach es die gemeinsame Sprache sei, die uns von den Deutschen trenne. Ganz so, als ob nicht Innviertler und Niederbayern wesentlich mehr gemeinsam hätten als letztere mit Nordfriesen und Holsteinern. Ganz so, als wären Vorarlberger und Baden-Württemberger einander nicht wesentlich ähnlicher als die Bewohner von Rostock und jene von Freiburg im Breisgau. Auch wenn sich Österreich längst nicht mehr als „deutscher Staat“ versteht wie in der Ersten Republik, sind die Überschneidungen Österreichs mit dem bundesdeutschen Nachbarn im Hinblick auf Wirtschaft, Kommunikation und auch persönliche Mobilität heute wesentlich intensiver als je zuvor. Tatsache bleibt es allerdings, dass die Österreicher wesentlich anders „ticken“ als ihre bundesdeutschen Nachbarn: Die Bundesdeutschen meinen, was sie sagen. Die Österreicher hingegen sagen keineswegs immer das, was sie meinen. In Deutschland ist die Lage ernst, aber nicht hoffnungslos, in Österreicher ist sie hoffnungslos, aber keineswegs ernst. Das sind nun zweifellos alles Klischees, sie sind aber auch in hohem Maße zutreffend.
Zu den weiteren Klischees – in diesem Falle ein negatives –, die es zu hinterfragen gilt, gehört die Behauptung, dass die Österreicher Opportunisten wären. So im Sinne von Qualtingers „Herrn Karl“, der sich mit geradezu widerlicher Anpassungsfähigkeit allen herrschenden Regimen und allen Zeitgeistströmungen anzupassen weiß. Im März 1938 war man jubelnd am Heldenplatz, nach 1945 war man selbstverständlich Sozialist und gewerkschaftlich organisiert, in der Monarchie hätte man dem Bürgermeister Lueger die Hand geküsst und in der jüngeren Zeit hätte man zweifellos dem oppositionellen H.C. Strache zugejubelt. Natürlich sei man vehement gegen Fremdenfeindlichkeit, aber Türken und schwarze Drogendealer möge man halt einfach nicht. Dieses hässliche Bild des Österreichers ist zweifellos überzeichnet. Richtig ist allerdings, dass die Österreicher Überlebenskünstler sind, anpassungsfähig und flexibel. „Situationselastisch“, könnte man ihr Verhalten vielleicht da und dort bezeichnen, wenn man ihre politischen und weltanschaulichen Positionen betrachtet.
Zuerst war man natürlich für das Erzhaus, den Kaiser und das Vaterland, dann zwischen 1918 und 1938 entweder für den Schutzbund oder die Heimwehr und jedenfalls für den Anschluss, den man 1938 doch weitgehend bejubelt hat. Nach 45 war man für die Befreier, vor allem natürlich für die Amis und natürlich für den Staatsvertrag. Und dann war man für Karl Schranz und für Bruno Kreisky und in Cordoba für die Nationalmannschaft. Und natürlich war und ist man für Nationalhelden wie für Marcel Hirscher, Conchita Wurst und David Alaba. Haydn, Mozart und Beethoven sind da schon ein wenig weiter weg. Grillparzer, Hofmannsthal und Handke interessieren schon nur mehr Ö1-Hörer und andere Bildungsbürger.
Und damit sind wir bei einem weiteren Klischee: Die Österreicher seien eine Kulturnation. Und das stimmt natürlich auch, wiewohl das Gros an historisch gewachsener Kultur und an Manifestation sogenannter Hochkultur wie Burgtheater, Staatsoper, Kunsthistorisches Museum, Albertina etc. schlicht und einfach das Erbe der Monarchie darstellen. Die kleine Republik Österreich oder früher die kleinen Kronländer der Monarchie hätten das alleine nie zustande gebracht. Das ist eben das Erbe des Kaiserhauses, das Erbe der kaiserlichen Haupt- und Residenzstadt Wien, das uns – ein wenig unverdient – in den republikanischen Schoß gefallen ist. Dieses Erbe wird allerdings von einem Großteil der Österreicher nur in sehr geringem Maße wahrgenommen und kaum konsumiert. Wieviele Prozente der Angehörigen dieser österreichischen Kulturnation waren schon in der Staatsoper oder bei einem Konzert im Musikvereinssaal? Wie viele haben die Schatzkammer in der Hofburg besucht oder die Salzburger Festspiele? Wenn man diese Fragen beantwortet, reduziert sich das Bild von der Kulturnation Österreich doch auf ein relativ bescheidenes Maß.
Was man den Österreicher allerdings unbestreitbar nachsagen kann ist, dass sie Bürger einer stabilen Demokratie mit einem gesicherten republikanischen Patriotismus und einem funktionierenden Rechtsstaat sind. Die Republik gehört zu den reichsten Ländern der Welt, ihre Bürger verfügen über ein hohes Maß an relativer Freiheit, relativem Frieden und relativem Wohlstand. Hier leben zu dürfen, ist am Beginn des 21. Jahrhunderts im globalen Vergleich zweifellos ein Privileg.
Wenn man also die autochthone Bevölkerung des heutigen Österreich definieren will, muss man zuerst sagen, dass sie die Nachkommen jener Menschen sind, die in den deutschen Erblanden der Habsburger Monarchie über Jahrhunderte den Kernbereich des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation getragen haben und zuletzt ein Jahrhundert bis hin zum Ende des Ersten Weltkriegs den schwergewichtigsten Teil einer multinationalen, auf den ganzen Donauraum erstreckten Monarchie darstellten. Sie waren also Träger einer übernationalen Reichsidee, offen, aber auch ausgesetzt allen kulturellen Einflüssen aus den Bereichen dieser Monarchie. Aber sie waren natürlich auch Deutsche, eine Tatsache, die bis hinein in die düsteren Jahre des NS-Regimes von kaum jemand bezweifelt wurde. Diese Menschen in den deutschen Kronländern der Habsburger Monarchie, zuerst im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation, dann der Doppelmonarchie, zeichneten sich schon sehr früh durch Besonderheiten aus, etwa durch ein katholisch fundiertes barockes Lebensgefühl. Danach gab es die Einflüsse der Aufklärung, des Josephinismus, dann der privatisierenden Kultur des Biedermeier und schließlich jenen der Gründerzeit, in der Wien als Hauptstadt des multinationalen Reiches tatsächlich zu einer Weltstadt wurde.
Dass dieses spezifisch österreichische Lebensgefühl nach 1945 ein auf den Staat, auf die Republik zentriertes Nationalbewusstsein werden konnte, ist also nicht verwunderlich. Gewiss spielte dabei der Opportunismus eine Rolle, mit dem man sich von den geschlagenen Deutschen und deren Verantwortung für historisch einzigartige Verbrechen zu distanzieren versuchte. Die Erfolgsstory aber, als die die Geschichte der Zweiten Republik betrachtet werden kann, hat das breite und fundierte Bewusstsein in der Bevölkerung geschaffen, Bürger eines funktionierenden, sinnvollen und sinnstiftenden Staatswesen zu sein. Das ist wohl die Basis des heutigen österreichischen Lebensgefühls.
Und dann sind da noch Eigenheiten, welche man sich klischeehaft selbst zuordnet: Angehöriger jener Nation zu sein, die alljährlich das Neujahrkonzert der Philharmoniker über den Äther in alle Welt hinaustönen lässt. Angehöriger jenes Landes zu sein, dessen Schifahrer regelmäßig Weltmeister und Olympiasieger werden. Angehöriger jener Republik, wo der Salzburger „Jedermann“ gespielt wird und die Lipizzaner in der Hofreitschule auftänzeln, Bürger eines Landes zu sein, dass EU-Nettozahler ist, das sich durch ein hohes Maß an sozialem Frieden und wirtschaftlichem Wachstum auszeichnet. Schließlich auch Bürger eines Landes zu sein, das als Sehnsuchtsziel für hunderttausende Flüchtlinge – aus welchen Gründen auch immer, zumeist wohl aus wirtschaftlichen – aus aller Welt gilt.
Und damit sind wir bei einem weiteren entscheidenden Thema, welches die Identität des Österreicher der Gegenwart beeinflusst: die Massenzuwanderung. Bereits die Gastarbeiterströme der 60er und 70er Jahre hatten den Zustrom fremder Populationen mit sich gebracht. Während die Wanderungsbewegungen der Nachkriegszeit die Vertriebenen und geflohenen Angehörigen des Ostdeutschtums, aus dem Sudetenland oder vom Balkan nach Österreich schwemmten und kaum soziokulturelle Probleme mit sich brachten, war die Gastarbeiterzuwanderung bereits ein Faktor ethnischer rund kultureller Veränderung. Aber erst die Massenzuwanderung der letzten Jahre, insbesondere der Jahre 2015 und 2016, zeitigte einen quantitativ tatsächlich massiven Faktor, der die ethnische Substanz der österreichischen Wohnbevölkerung verändern wird. Rund ein Viertel der Wohnbevölkerung dürfte bereits Migrationshintergrund haben und deren höhere Geburtenrate, der Familiennachzug und ein anhaltender – wenn auch gebremster – weiterer Zustrom könnte die autochthone Bevölkerung des Landes tatsächlich in ein, zwei Generationen in die Defensive drängen. Wie sich der Charakter des Homo Austriacus ändern wird, kann man nur vermuten. Zweifellos wird es stärker islamische Einflüsse geben, das traditionell katholische Österreich mit seinen protestantischen Enklaven wird also in religiöser Hinsicht zunehmend muslimisch beeinflusst werden.
Insgesamt dürfte es eine Gesellschaft mit vielerlei Parallelgesellschaften werden, einerseits mit integrierten Communities wie etwa jenen, die vom Balkan stammen (Serben, Kroaten), und andererseits mit ghettoisierten Minderheiten, die sich von der autochthonen Bevölkerung abschotten. Dies betrifft weitgehend den Bereich der türkischen Zuwanderer, aber auch jener, der in jüngster Zeit aus dem arabisch-syrischen Bereich gekommen sind. Einen weiteren Faktor stellen dabei Menschen aus Zentralasien (Afghanistan, Pakistan) und aus Schwarzafrika dar. Assimilation und Vermischung wird dabei natürlich auch stattfinden, Konflikte zwischen den einzelnen Zuwanderergruppen, aber auch mit der autochthonen Bevölkerung werden dabei unvermeidbar sein. Ob es dabei bei sozialen Verteilungskämpfen bleibt oder ob es tatsächlich auch zu Gewalt und Ausschreitungen kommt, ist eine weitere Frage.

2 Responses to Der Homo Austriacus

  1. Byronic hero sagt:

    Zu erwähnen wäre hier vielleicht noch die naive und scheinbar unerschütterliche Grundauffassung vieler Österreicher, dass Gleiches auch immer mit Gleichem vergolten wird und dass Vorurteile immer Vorurteile bleiben, egal, was passiert, egal, wieviele Beispiele, die diese „Vorurteile“ bestätigen, es auch immer geben mag. Wo aus Vorureilen niemals Erfahrungswerte werden, rennt man irgendwann notwendig gegen die Wand. Und wenn es dann brummt und schmerzt stellt man sich (mal wieder) die Frage: „Woher hätten wir denn das nur wissen sollen?“ Auch typisch österreichisch. Allzu typisch.

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