Die alte Tante SPÖ

Über Glanz und Elend des Austromarxismus

Es begann vor 130 Jahre in der kleinen Ortschaft Hainfeld im Wienerwald: Der Armenarzt Victor Adler vermochte die verschiedenen Gruppierungen und Strömungen der Arbeiterbewegung in den habsburgischen Landen zu einer einzigen sozialdemokratischen Partei zu einigen. Der Mediziner mit großbürgerlichem Hintergrund aus jüdischer Familie und sein Mitstreiter Engelbert Pernerstorfer waren ursprünglich Mitkämpfer des alldeutschen Georg Ritter von Schönerer gewesen. Sie hatten noch in den frühen 80er Jahren am Linzer Programm Schönerers mitgearbeitet und waren als Studenten für wenige Jahre Burschenschafter gewesen. Liberales Denken und deutschnationales Fühlen waren den Parteigründern also nicht fremd. Ab der Parteigründung des Jahres 1888 aber, war es der Marxismus, der – wenn auch in relativ gemäßigter Art und Weise – Adlers und Pernerstorfers Denken bestimmen sollte.
Von Anbeginn an orientierte sich die österreichische Sozialdemokratie an der reichsdeutschen Schwesterpartei. Diese war vom Burschenschafter Ferdinand Lassalle, ebenfalls Jude, der nach einer Frauengeschichte in einem Duell fallen sollte, gegründet worden und in ihrer Frühzeit maßgeblich vom Corpsstudenten August Bebel beeinflusst. Diese Bindungen zur deutschen Sozialdemokratie fanden einen ersten Höhepunkt in den Jahren unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, als die österreichischen Sozialdemokraten die primäre treibende Kraft des Anschlusses an die damals ebenso sozialdemokratisch regierte Weimarer Republik waren.
Noch in den Tagen Bruno Kreiskys gab es so etwas wie ein Sonderverhältnis zwischen der österreichischen SPÖ und der bundesdeutschen SPD des Willy Brandt. Die große deutsche Sozialdemokratie war eben das leuchtende Vorbild für die österreichischen „Roten“.
Diese allerdings waren aber in ideologischer Hinsicht um einiges radikaler als die reichsdeutschen Genossen, was sich insbesondere in der Ersten Republik in der Person des Chefideologen Otto Bauer manifestierte. Diese Radikalität, die sich im Theoriegebäude des Austromarxismus niederschlug, deckte aber das gesamte linke Spektrum derartig umfassend ab, dass in der Ersten Republik in Österreich keine nennenswerte kommunistische Partei Fuß fassen konnte.
Die roten Garden, wie sie etwa unter der Teilnahme des „fliegenden Reporters“ Egon Erwin Kisch bei der Ausrufung der Republik am 12. November 1918 eine Schießerei vom Zaun brachen, sollten eine Kleingruppe bleiben. Eine Kleingruppe allerdings, die während der Ersten Republik als einzige neben den habsburgischen Legitimisten gegen den Anschluss an Deutschland auftrat und die ab 1945 unter der Patronanz der sowjetischen Besatzungsmacht für die Anfangsjahre der Zweiten Republik ein nicht unwesentlicher Faktor sein sollte. Ein Faktor, der im Jahre 1950 noch einmal so etwas wie einen Putschversuch unternahm, der jedoch von Innenminister Franz Olah rigoros unterbunden wurde.
Doch zurück zu den Gründerjahren: Neben dem Kampf um eine Verbesserung der Lebensverhältnisse der arbeitenden Menschen, wie etwa einer Verkürzung der täglichen Arbeitszeit, des Verbots von Kinderarbeit und anderen Arbeitnehmerrechten, war es vor allem der Kampf um das allgemeine und gleiche Wahlrecht, der von der Sozialdemokratie in den letzten Jahrzehnten der Monarchie vorangetragen wurde.
Erst mit der Abschaffung des Zensuswahlrechts, das ja bekanntlich die vermögenderen Bevölkerungsschichten, insbesondere das Bürgertum, bevorzugt hatte, vermochte die Sozialdemokratie zu einer nicht zu übersehenden Kraft im Reichsrat der cisleithanischen Reichshälfte aufzusteigen. Gemindert wurde diese Stärke allerdings bald durch die Abspaltung der nichtdeutschen sozialdemokratischen Parteien, die in der österreichischen Reichshälfte der Monarchie ihren eigenen Weg zu gehen trachteten.
Trotz des theoretischen revolutionären Impetus des Austromarxismus war die „k. u. k.-Sozialdemokratie“ des Victor Adler dem Kaiserhaus gegenüber weitgehend loyal. Nach Erlangung des allgemeinen gleichen Wahlrechts für Männer wurde die Sozialdemokratie bei den Wahlen des Jahres 1911 zur stärksten Partei im Reichsrat, wobei allerdings die in eine Reihe von Clubs und Einzelparteien zerfallenen deutschnationalen und deutschliberalen Parteien insgesamt stärker waren.
Trotz ihrer extrem linken Ausrichtung geriet die österreichische Sozialdemokratie in den Monaten nach dem Ersten Weltkrieg niemals in Versuchung, so wie in München oder in Budapest ein räterepublikanisches System nach Sowjetmuster aufzuziehen. Als klug erwies sich in diesem Zusammenhang die Entscheidung der bürgerlichen Parteien, einen Exponenten der Sozialdemokratie, nämlich den hochrangigen Parlamentsbeamten Karl Renner, zum Vorsitzenden des Staatsrats der provisorischen Regierung zu wählen. Mit dieser Maßnahme bewegte man die Sozialdemokratie dazu, die Straße und allfällige Protestdemonstrationen unter Kontrolle zu halten und eine tatsächliche Revolution zu verhindern.
Zweimal stand die Sozialdemokratie federführend an der Wiege der Republik. Und sowohl im Herbst 1918 als auch im Frühling 1945 war es die Person des Karl Renner, der die Staatsspitze stellte.
Als Staatsratsvorsitzender des Jahres 1918 arbeitete er die erste provisorische Verfassung aus und leitete die österreichische Delegation bei den Friedensverhandlungen in Saint-Germain-en-Laye. Im Jahr 1920 allerdings musste sich die gesamte Sozialdemokratie in die Opposition verabschieden. Die Koalition mit den Christlichsozialen war geplatzt, und diese sollten für die weiteren Jahre der Ersten Republik bis 1934 mit den nationalliberalen Parteien und danach in Form des autoritären Ständestaats an der Regierung bleiben.
Karl Renner, der in die Jahre des Zweiten Weltkriegs und der NS-Zeit in seiner Villa in Gloggnitz verbracht hatte, sollte dann auch wieder an der Wiege der Zweiten Republik stehen und das nicht zuletzt, weil er als politischer Pragmatiker – ein Pragmatismus, der bisweilen schon an Opportunismus grenzte – den „Genossen Stalin“ briefliche Lobeshymnen übermittelte und solcherart mit der Bildung einer provisorischen Staatsregierung betraut wurde.
Deshalb wurde er auch zum ersten Bundespräsident der Zweiten Republik. Unmittelbar nach der Gründung der Republik im Herbst 1918 gaben sich die Sozialdemokraten als die Anschluss-Partei schlechthin. Neben den Deutschnationalen waren sie es, die bis zum Jahre 1933 am entschiedensten für die Vereinigung mit dem Deutschen Reich eintraten. Die Sozialdemokratie hatte den Anschluss jedenfalls bis zum Jahre 1933, bis zur Machtübernahme durch Hitler, verfochten, und noch im Jahre 1938, nach dem Anschluss an das Reich, erklärte der führende Theoretiker der Sozialdemokratie Otto Bauer im Pariser Exil: Es könne nicht die „reaktionäre Parole“ der Wiedererrichtung eines unabhängigen Österreich sein, sondern vielmehr die gesamtdeutsche Revolution, die die Sozialdemokratie anzustreben habe. Nach dem Krieg wurde die Sozialdemokratie gemeinsam mit ihrem Koalitionspartner ÖVP zum entschiedenen Verfechter einer ethnisch eigenständigen „österreichischen Nation“ und des „österreichischen Menschen“, der alles sein konnte, nur kein Deutscher. Einzig Friedrich Adler, der Sohn des Parteigründers erklärte, dass er, vor die Wahl gestellt, ob er sich für die Nation Goethes, Schillers und jene Sprache, in der Freiligrath seine revolutionären Lieder geschrieben habe, entscheiden müsse oder für eine österreichische Nation, dass er dies vorbehaltlos für erstere tun würde.
In ideologischer Hinsicht war die Sozialdemokratie während der Ersten Republik – wie gesagt –relativ radikal. Noch im Parteiprogramm von 1926 erklärte sie, die „Diktatur des Proletariats“ zum politischen Ziel. Der Weg dorthin allerdings sei die Demokratie, was aber die Sozialdemokraten nicht hinderte, im Februar 1934 mit ihrer paramilitärischen Formation, dem Schutzbund nämlich, in den Bürgerkrieg zu ziehen.
Dieser wurde insbesondere im „roten Wien“ besonders heftig ausgefochten. Dieses „rote Wien“ war überhaupt die Hochburg der Sozialdemokratie und zwischen 1920 und 1934 so etwas wie das sozialdemokratische Gegenmodell zur Bürgerblock-Regierung. Neben dem sozialen Wohnbau, wie er sich in den großen Gemeindebauten manifestierte, waren es vor allem Projekte der Arbeiterbildung und der Arbeiterwohlfahrt, die in Wien unter sozialdemokratischer Führung der Ersten Republik vorbildlich verwirklicht wurden. Und auch nach 1945 blieb dieses „rote Wien“ bis zum heutigen Tag die eigentliche Hochburg der österreichischen Sozialdemokratie.
In der Ersten Republik wurde die Sozialdemokratie als „Judenpartei“ geschmäht. Tatsächlich gab es von der Gründung an eine Reihe von bedeutenden jüdischen Funktionären, angefangen von Victor Adler bis hin zu Otto Bauer und in der Zweiten Republik Bruno Pittermann und Bruno Kreisky. Der Antisemitismus aber, der sich im 19. Jahrhundert von einer religiösen Motivation hin zu einer rassisch-begründeten entwickelte, machte auch vor der österreichischen Sozialdemokratie nicht halt. Während die deutschfreiheitlichen Parteien in der Ersten Republik, also die Großdeutsche Volkspartei und der Landbund ebenso einen Arierparagraphen gegen die Aufnahme von jüdischen Mitgliedern hatten wie die Christlichsozialen, gab es in der SPÖ allerdings nur die informelle Vereinbarung, dass im Parteivorstand nicht mehr als eine gewisse Anzahl jüdischer Funktionäre sitzen sollten, um deren Einfluss in Grenzen zu halten.
Und nach 1945 ließ der Parteivorsitzende Adolf Schärf immerhin noch Briefe an im ausländischen Exil befindlichen Genossen jüdischer Herkunft schreiben, sie mögen doch nicht nach Österreich zurückkommen, da sie der SPÖ schaden würden. In der Zweiten Republik war die SPÖ, waren die „Sozialisten“ , wie sie sich nunmehr nannten, über mehr als zwei Jahrzehnte von 1945 bis 1966 in einer von der christlichsozialen ÖVP geführten Regierungskoalition. Den ÖVP-Spitzenpolitikern Figl, Raab, Gorbach und Klaus standen von SPÖ-Seiten neben den beiden altgedienten Staatsmännern Karl Renner und Theodor Körner die Parteivorsitzenden Adolf Schärf, Bruno Pittermann und Bruno Kreisky gegenüber. Ihnen folgten dann Fred Sinowatz, Franz Vranitzky, Viktor Klima, Alfred Gusenbauer, Werner Faymann und schließlich Christian Kern.
Von Anbeginn der Zweiten Republik verstand sich die Sozialdemokratie als staatstragende Partei und sui generis auch als Regierungspartei.
Nur in den Jahren zwischen 1966 und 1970 und dann wieder von 2000 bis 2006 war die SPÖ nicht in der Bundesregierung vertreten. Der schwarz- rote bzw. rot- schwarze Proporz und die Sozialpartnerschaft, bei der die SPÖ durch die Gewerkschaft und die Arbeiterkammer entsprechend vertreten waren, bilden dabei einen Macht- und Repräsentationsanspruch der SPÖ, von dem viele Sozialdemokraten bis zum heutigen Tag glauben, dass sie durch den kurz- oder mittelfristigen Wählerwillen gar nicht abgelöst oder gar getilgt werden können.
Die bislang prägendste Persönlichkeit in den Reihen der Sozialdemokratie in der Geschichte der Zweiten Republik ist zweifellos Bruno Kreisky: Der Spross aus jüdisch-großbürgerlicher Familie, der lange Jahre im schwedischen Exil verbracht hatte und sich in Österreich erst als Außenpolitiker bereits bei den Staatsvertragsverhandlungen profilieren konnte, war der politische „Sonnenkönig“ jeder sozialdemokratischen Ära, die in den 70er Jahren in Europa von Willy Brandt und Olaf Palme, aber eben auch von Bruno Kreisky selbst geprägt wurde. Seine Nachfolger von Fred Sinowatz bis Christian Kern brachten es allesamt nicht mehr zustande, so wie er das Bild eines charismatischen, sozialdemokratischen Spitzenpolitikers zu bieten.
Heute ist die SPÖ in der Opposition, und allenthalben wird darüber diskutiert, dass sie sich neu erfinden müsse. Eine Arbeiterklasse im historischen Sinne, gibt es kaum mehr. Die einstigen Proletarier sind längst kleinbürgerliche Konsumenten geworden und das Gutmenschen-Postulat, die Partei der sozialen Gerechtigkeit und des konsequenten Antifaschismus sein zu wollen, scheint auch nicht zu reichen.
Ob also die parlamentarische Opposition für die Sozialdemokratie eine Art politischer Frischzellenkur sein wird oder die politische Palliativstation, bleibt abzuwarten.

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