Wertvoll an der deutschen ­Geschichte …

Ein Plädoyer wider den ­Nationalmasochismus

Bei den Briten heißt es „right or wrong my country“. Und das betrifft die englische Geschichte und jene des britischen Empires in all ihren Facetten und über die Jahrhunderte hinweg. Bei uns Deutschen hingegen wird die eigene Geschichte gewissermaßen als Abfolge von Katastrophen und Verbrechen verstanden, und die Persönlichkeiten dieser deutschen Geschichte werden quasi als Horrorkabinett gesehen. Der Grund dafür liegt natürlich in der Verengung des Blickwinkels auf die zwölf Jahre des Nationalsozialismus und die Tragödien und Verbrechen während der Epoche des Dritten Reichs. Und auch diesbezüglich ist die Propaganda der ehemaligen Kriegsgegner und der Siegermächte von 1918 und 1945 gewissermaßen zur Basis des deutschen Geschichtsbildes geworden. Und da heißt es dann, dass die gesamte deutsche Geschichte von Hermann dem Cherusker, über Karl den Großen, die Staufer, Martin Luther und den alten Fritz nur eine Entwicklung hin zum NS-Totalitarismus gewesen wäre.
Diese Sichtweise der „Besiegten von 1945“ auf die eigene Geschichte und dazu die aktuelle Geschichtslosigkeit der jüngeren Generationen, deren historische Ignoranz und Unwissenheit, bedingen es, dass die ganze Größe und der ganze Reichtum dieser unserer deutschen Geschichte mit all ihren Höhen und Tiefen nahezu in Vergessenheit zu geraten droht. Wenn die eigene historische Entwicklung und die Größen und Persönlichkeiten dieser eigenen Geschichte im 19. Jahrhundert zur Heroisierung der eigenen Nation dienten, wenn diese Geschichte im Zeitalter des Totalitarismus in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts häufig zur Legitimierung der eigenen – streckenweise auch verbrecherischen – Politik diente, glaubt man heute häufig, durch völliges Ignorieren dieser Geschichte auch deren Hypotheken und Lehren ignorieren zu können. Mit Ausnahme natürlich der immerwährenden Last und Verantwortung, die man für die Verbrechen des Nationalsozialismus zu tragen hat. Wobei die Pflicht-Antifaschisten unserer Tage die Vorgeschichte, die Ursachen, die Zusammenhänge und wohl auch die Abläufe und Auswirkungen dieser Verbrechen längst nicht mehr kennen oder gar verstehen.
Dabei ist die 1000-jährige deutsche Geschichte, mit ihrer tausendjährigen germanischen Vorgeschichte und mit ihrer facettenreichen jüngeren Geschichte – und das betrifft vor allem auch unsere österreichische Geschichte – so reich an Triumphen, aber auch am Tragödien, an geistig-kulturellen Leistungen, aber auch an Schreckensereignissen, dass sich die Beschäftigung damit in hohem Maße lohnen würde.
Wenn man die deutsche Geschichte nach speziellen Eigenheiten betrachten möchte, könnte man sagen, dass alles mit dem Kampf um die Freiheit begann. Um die Freiheit nämlich von der römischen Besatzung, im Freiheitskampf des Cheruskers Arminius gegen den Römer Varus und seine Legionen. Und dieses Streben nach Freiheit setzt sich bis hin in die Neuzeit zu den Bauernkriegen, bis zu den Befreiungskriegen gegen Napoleon und die Gründung der Urburschenschaft, über die bürgerliche Revolution von 1848 und letztlich bis zum Aufstand des Jahres 1953 in der „DDR“ und zum Fall der Berliner Mauer im Jahr 1989 fort.
Man kann die deutsche Geschichte natürlich auch unter dem Aspekt der Wehrhaftigkeit betrachten. Auch hier beginnend mit dem germanischen Abwehrkampf gegen das römische Imperium, über die militärischen Eroberungszüge der Völkerwanderung, die Rom-Züge der deutschen Könige bis hin zum Alten Fritz und seinem preußischen Militärstaat und zu Bismarcks Reichsgründung mit „Blut und Eisen“.
Ein weiterer zentraler Aspekt der deutschen Geschichte ist es sicher, dass durch die Translatio imperii der Reichsgedanke seit Karl dem Großen, zuerst auf die Franken und dann eben auf die Deutschen übergegangen ist. Die Sachsen-Kaiser, danach die Salier-Kaiser und schließlich die Staufer haben im Hochmittelalter das abendländisch-römische Kaisertum mit dem deutschen Königtum verschmolzen und die Deutschen zum Reichsvolk schlechthin gemacht mit dem Anspruch auf gesamteuropäische Dominanz. Die Übernahme des Kaisertums durch die Habsburger und deren Ausgreifen über das burgundische Erbe und Spanien auf ein Welt-Kaisertum bildete den Höhepunkt dieses imperialen Anspruchs. Allerdings hat diese imperiale Funktion der deutschen Geschichte auch dazu geführt, dass das deutsche Volk eigentlich der Leidtragende derselben war. Der Kampf des Kaisertums gegen das Papsttum, die Rivalität zwischen Territorialfürsten und dem deutschen Königtum, in der Folge die Zerrissenheit durch Reformation und Gegenreformation in den Glaubenskriegen und die deutsche Kleinstaaterei und schließlich im Dreißigjährigen Krieg die Funktion als Schlachtfeld der europäischen Mächte machen dies deutlich.
Abgesehen aber von den militärischen und machtpolitischen Kämpfen, den Siegen und Niederlagen, die die deutsche Geschichte ausmachen, gibt es die geistesgeschichtlichen, die kulturellen Leistungen der Deutschen, die sich durch deren Historie ziehen. Von der karolingischen Renaissance, über die hohe Religiosität, die sich in den Kaiserdomen von Speyer, Worms und Mainz zeigt, bis zur theologischen Leistung eines Martin Luther und schließlich den kulturell-literarischen Leistungen der deutschen Klassiker und der Philosophie des Deutschen Idealismus führt der Weg der deutschen Geistesgeschichte, die einen nicht wegzudenkenden Bestandteil der menschlichen Kultur darstellt. Dazu kommen die Schöpfungen der Komponisten deutscher Herkunft, von Bach über Mozart, Beethoven, bis hin zu Wagner, Brahms und Richard Strauss.
Dies sind nur einige Aspekte der deutschen Geschichte jenseits der Barbarei in den Jahren des NS-Totalitarismus, auf die man durchaus stolz sein könnte. Das Dogma der Geschichtswissenschaft, wonach es einen deutschen Sonderweg gebe, der das große Kulturvolk inmitten Europas geradezu zwangsläufig über den Militarismus hin zum Totalitarismus und weiter zu singulären Menschheitsverbrechen wie den Holocaust geführt hätte, erweist sich bei näherer Betrachtung als nicht haltbar. Zwar mag es sein, dass Deutschland in Hinblick auf die Bildung von Nationalstaaten in Europa so etwas wie eine „verspätete Nation“ war, aber Ähnliches könnte man auch im Hinblick auf andere Nationen, etwa im östlichen Europa – man denke an die Ukraine – sagen. Auch mag es richtig sein, dass diese „verspätete Nation“, also das wilhelminische Deutschland nach der kleindeutschen Lösung, die Bismarck realisierte, zu groß für seine europäischen Nachbarn war, dass dies gewissermaßen zwangsläufig zum Ersten Weltkrieg führen musste. Allerdings wissen wir spätestens seit dem epochemachenden Werk Christopher Clarks „Die Schlafwandler“, dass das Verschulden an diesem Ersten Weltkrieg keineswegs bei den Deutschen – und k.u.k.-Österreichern – alleine lag.
Deutschland mag damals als Quasi-Hegemonialmacht in Europa selbst schuld gewesen sein an der Einkreisung durch die Ententemächte, da es wahrscheinlich zu dominant war. Allerdings sehen wir in unseren Tagen, dass dieses Deutschland – zusammengestutzt nach zwei Weltkriegen – geradezu zwangsläufig, zumindest in wirtschaftlicher Hinsicht, die erste Rolle in Europa spielen muss. Und diese Rolle wächst Deutschland in zunehmendem Maße heute auch in politischer Hinsicht zu — ob es will oder nicht.
Mit jenem Nationalmasochismus allerdings, der das deutsche Geschichtsverständnis seit 1945 dominiert, lässt sich eine solche Führungsrolle innerhalb der Europäischen Union nicht übernehmen. Die Deutschen, und mit ihnen wir kleinen und neutralen Österreicher, die wir allerdings in der deutschen Geschichte eine so bedeutende Rolle gespielt haben, werden uns diesbezüglich zu einem neuen Verständnis unserer Geschichte durchringen müssen. Einem Verständnis, das unbefangen die Höhen und Tiefen, die Triumphe, aber auch die Tragödien der eigenen Geschichte akzeptiert und erkennt, dass wir nicht besser, aber auch nicht schlechter als die anderen großen europäischen Kulturvölker sind.

Hinterlasse einen Kommentar