Von den ­Chancen der Verarmung

Das, was gegenwärtig hierzulande, aber auch darüber hinaus in ganz Europa und wohl insgesamt in den westlichen Industriestaaten geschieht, ist ein Prozess der breitflächigen Verarmung. Inflation, Rezession, massiver Schwund der Kaufkraft, Verminderung des Sparvermögens und die Entwertung anderer Vermögensbereiche führen dazu, dass wir alle schrittweise, aber spürbar und mittel- und längerfristig deutlich ärmer werden. Der Mittelstand sinkt herab ins Prekariat, das von staatlichen Zuwendungen und Transferleistungen abhängig ist. Das vormalige Prekariat droht vollends zu verelenden. Nur die Superreichen werden noch reicher.
Ein solcher Prozess der Verarmung ist schmerzhaft und mit Verzicht, Verlust und Gefühlen des Versagens, individuell und gesamtgesellschaftlich, verbunden. Dieser Prozess der Verarmung führt allerdings denklogisch zur Armut. Und Armut bietet dann Perspektiven, die insgesamt nicht nur negativ sein müssen. Zumal in einer Gesellschaft, die dekadent und hedonistisch geworden ist und nur mehr krudem Materialismus frönt.
Man denke zurück an jene Zeiten, in denen in unseren Breiten nach der Überwindung der unmittelbaren Not der Nachkriegszeit zwar Armut herrschte, allerdings Aufbruchstimmung und Optimismus. In den Fünfziger-Jahren, in denen sich das Wirtschaftswunder erst ankündigte, waren wir Österreicher und die Deutschen, die Besiegten von 1945 also, weitgehend arm. Der Dichter Gregor von Rezzori meinte in einem seiner Bücher: „Was waren die Deutschen im Jahre 1945 doch für ein schlankes Volk.“ Heute sind die Deutschen, die Österreicher, und gerade die einkommensschwachen Schichten, das Prekariat, von Fettleibigkeit bedroht, ähnlich wie die sozialen Unterschichten in den USA. Armut könnte also schon rein vom Physischen her zu einer gewissen Gesundung der Menschen führen.
Und wie einfach war das Leben in den besagten Fünfziger-Jahren! Da besaß man keinen Kühlschrank, und die Milch, die vom Bauern oder vom Milchgeschäft in der Blechkanne geholt wurde, wurde zwischen die Fenster gestellt zur Kühlung. In der Früh schöpft man den Rahm ab, der dann am Sonntag als eine Nachspeise, Schlagsahne, verzehrt wurde. Und Fernseher gab es auch noch keinen. Und wenn, dann waren die ersten in irgendwelchen Gaststätten, die man gemeinsam besuchte, um Heinz Conrads „Servus die Madln, Servus die Buam“ zu schauen. Und zumeist war es nur ein altes Röhren-Radio, aus dem Nachrichten und Volksmusik ertönten. Und ein Auto besaß dann vielleicht die einzige etwas wohlhabendere wohlhabenderen Familie im gesamten Viertel, und wenn, dann war es ein alter VW Käfer.
Wenn man mit den Kindern in den benachbarten Wald spazieren ging, kam kaum jemand nach Hause ohne ein Bündel Fichtenäste, die dann im Keller aufgehackt wurden, um den Kanonenofen zu heizen. Und für den Winter hatte man einen 50-Kilo-Sack Kartoffeln in eben demselben Keller und zehn Krautköpfe oder ein Schaffel Sauerkraut. Am Sonntag gab es ein Huhn oder Fleischleibchen und Schnitzel nur an hohen Feiertagen. Ansonsten Sterz und Kaffee, keinen echten natürlich, Kaiserschmarrn und Palatschinken mit selbst eingekochter Marillenmarmelade.
Alles einfach, aber ohne chemische Zusätze, also gesund! Das Leben war bescheiden und von Dürftigkeit gekennzeichnet. Hungern musste man aber nicht mehr und frieren ebenso wenig. Und vor allem: die Menschen waren glücklich und optimistisch, denn sie hatten das Gefühl, es müsste bergauf gehen.
Und heute, in unseren Tagen, ist es genau umgekehrt: Wir leben in einer dekadenten übersättigten Gesellschaft, saturiert und übergewichtig, von Wohlstandskrankheiten bedroht und von tiefem Pessimismus durchdrungen. Alle wissen, es geht bergab, es kann nur bergab gehen, und die Menschen sind natürlich unglücklich.
Wie oft hören wir alle die Aussage: Es muss den Leuten erst wirklich schlecht gehen, damit sich etwas ändert. Das soll wohl heißen, dass es erst zur Katastrophe kommen muss, bevor die Läuterung der Gesellschaft eintritt. Unsere gegenwärtige sozioökonomische Station ist nun in den meisten Fällen wohl noch keine als solche empfundene Katastrophe, der schmerzhafte Prozess der Verarmung aber könnte und sollte denselben Effekt erzielen: So etwas wie eine Läuterung der Gesellschaft, der Menschen und des staatlichen Gemeinwesens, eine Rückbesinnung auf das, was wichtig ist im Leben: Freundschaft, Liebe, Empathie, Hilfsbereitschaft und eben Gemeinschaftsgefühl.
Die historische Erfahrung allerdings lehrt uns auch etwas anderes: Auf die Katastrophe in den frühen Dreißiger-Jahren mit der Weltwirtschaftskrise und massenhafter Arbeitslosigkeit folgte keineswegs eine Läuterung der Gesellschaft im Sinne von Gemeinsinn und humanitärer Einstellung, nein, es folgte dann darauf der Totalitarismus des NS-Regimes und des Faschismus und es folgte der Weltkrieg und die Katastrophe. Krisenerscheinungen und Verarmungsprozesse führen also häufig dazu, dass das Böse, die Abgründe im Menschen, geweckt werden. Soweit zumindest die historische Erfahrung des vorigen Jahrhunderts.
Vielleicht kommt es aber darauf an, auf welche Art und Weise das Gesundschrumpfen der Gesellschaft und unseres Wirtschaftssystems vonstatten geht: Ob es ein Prozess der Verelendung ist oder eine bewusste Hinwendung zu Demut, Verzicht und Konsumaskese. Mittels eines bewussten und in positiver Einstellung vollzogenen Prozesses des Zurückfahrens des materiellen Wohlstands und des Ressourcenverbrauchs könnte man die Weckung des Bösen in der Gesellschaft und in den Menschen wohl vermeiden. Der Klimaterrorismus, wie ihn sektoide Gruppen wie die „Letzte Generation“ üben, ist da wohl der falsche Weg. Es gilt vielmehr, Überzeugungsarbeit bei den Menschen und in der Gesellschaft zu leisten, wonach der Wachstumsfetischismus, wie wir ihn in den letzten Jahrzehnten, im Grunde seit Beginn der Industrialisierung, kennen der falsche Weg ist.
Nun könnte man meinen, dass all die grünen Umweltschützer und Klima-Apokalyptiker mit ihren Bestrebungen und Aktionen Recht hätten und im Sinne einer solchen sinnvollen neuen Armut agieren würden. Wenn, ja wenn, hinter deren Aktivitäten nicht ganz andere Ziele stünden, nämlich jene der grundsätzlichen Gesellschaftsveränderung, der Schaffung des „neuen Menschen“ und ganz allgemein ultralinke Gleichmacherei und autoritäre Vorschrifts- und Verbotskultur.
Natürlich ist es keine Frage, dass Demut vor der Natur und Bescheidenheit bei der Nutzung der natürlichen Ressourcen des Planeten angebracht wäre. Und zweifellos ist die Überbevölkerung mit mehr als acht Milliarden Menschen eine der zentralen Ursachen für Umwelttod, Artensterben und die verschiedensten ökologischen Katastrophen. Eine Wiederkehr des Marxismus aber im grünen Gewande, ein Revival des Kommunismus unter ökologischem Vorzeichen ist keineswegs geeignet, diese Probleme zu lösen und für Umwelt- und Klimaschutz zu sorgen.
Auch kann es nicht angehen, unter dem Vorwand des Klimaschutzes demokratische Mechanismen auszusetzen. Und auch eine völlige Abschaffung der freien Marktwirtschaft kann nicht die Lösung sein. Demokratie und Marktwirtschaft in sozialer und ökologischer Verantwortung sind unverzichtbar für eine offene Gesellschaft. Und eine solch offene Gesellschaft kann durchaus auch ohne Wachstums­fetischismus mit einer neuen Art der Bescheidenheit und des Konsumverzichts, in Demut vor den natürlichen Lebensbedingungen des Planeten existieren. Armut, im wohlverstandenen Sinne wäre also durchaus eine Chance für unsere Gesellschaft.

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