Wladimir Putin, der Herr im Kreml, ist ein Autokrat. Ein Autokrat, wie er in Russland seit den Tagen Ivans des Schrecklichen bis hin zu Leonid Breschnew die Herrschaft auszuüben pflegte. Und Wladimir Putin ist ein russischer Nationalist, ein Großrusse, der in der Tradition Peters des Großen und vielleicht sogar Josef Stalins steht, wenn es darum geht, die geopolitischen Interessen des Landes zu vertreten. Putin ist aber auch ein Realist. Ein politischer Realist, der in den globalen Konflikten der letzten zwei Jahrzehnte vielleicht keine mäßigende, aber doch eine berechenbare Rolle gespielt hat.
Die in den Medien und in den Aussagen der westlichen Politiker gegenwärtig häufig aufgestellte Behauptung, Wladimir Putin sei dabei, gegenwärtig einen großen europäischen Krieg durch eine Invasion der Ukraine anzuzetteln, ist daher wenig glaubwürdig. Gewiss, er hat eine militärische Drohkulisse gegenüber jenem Nachbarstaat aufgebaut, der über Jahrhunderte Teil des russischen beziehungsweise danach sowjetischen Imperiums war. Eine Drohkulisse, die offenbar verhindern soll, dass sich diese große Land, die Ukraine eben, dem westlichen Militärbündnis NATO anschließt. Eine Drohkulisse aber auch, die darauf hinweist, dass Putin und die Russen insgesamt offenbar nicht gewillt sind, die NATO-Osterweiterung bis hin an die Grenzen des russischen Kernlandes weiter zu akzeptieren. Eine Drohkulisse auch, die Putin offenbar als Antwort auf das gebrochene Versprechen aus dem Jahr 1989/90 betrachtet, wonach die NATO sich nicht auf ehemals sowjetisches Territorium vorwagen wolle.
Insgesamt aber steht Wladimir Putin natürlich in der Tradition der großrussischen Politik, wie wir sie seit Jahrhunderten kennen. Der größte Flächenstaat der Erde hatte stets einen Drang zu den Meerengen, zu den offenen Weltmeeren gehabt, im Norden über Murmansk zum Eismeer, in der Ostsee über das Baltikum und im Süden zu den Dardanellen. Dass das neue Russland unter Putin die baltischen Staaten verloren hat, wurde indessen im Kreml wohl akzeptiert. Die Eigenständigkeit der baltischen Völker, abgestützt durch die NATO-Mitgliedschaft ist Faktum. Ein Faktum, das allerdings relativiert wird durch die zahlenmäßig starken russischen Minderheiten in diesen Staaten. Deren bürgerliche Rechte zu stärken, sollte eigentlich ein Anliegen der Europäischen Union sein, wenn man nicht will, dass der Kreml als russische Schutzmacht dies durchsetzt.
Als die Sowjetunion zerbrach und in der Folge auch der russische Zentralstaat Randbereiche abgeben musste, war der Kreml in der Periode von Boris Jelzin in der Defensive. Erst unter Wladimir Putin war der russische Bär in der Lage, sich vom machtpolitischen Krankenbett zu erheben und nach und nach seine Krallen zu schärfen. Neben jenem Bündnis, das Russland mit Weißrussland und anderen ehemals zu Russland gehörenden Bereichen errichtete, ist es zweifellos so etwas wie ein Machtanspruch in Richtung auf alle ehemals sowjetischen Territorien, wobei der Kreml zweifellos auch auf jene Gebiete und Staaten schielt, die zum Warschauer Pakt gehörten.
Angesichts dieser historischen und geopolitischen Tatsache war es ein Gebot der Vernunft, dass die ehemaligen Ostblockstaaten auf eine beinahe überhastetete Art und Weise der EU beitraten und auch der NATO. Jahrzehntelang mussten sie das Schicksal von Satellitenstaaten der Sowjetunion und damit gegenüber den Russen erleiden, nunmehr war die Hinwendung zu Europa die logische Alternative, die auch Sicherheit bot. Und dasselbe galt natürlich auch für die drei baltischen Staaten.
Dass der Kreml indessen durch die NATO-Erweiterung ein Gefühl der Einkreisung entwickeln musste, liegt auch auf der Hand. Als in den 60er Jahren die Sowjetunion Raketen auf Kuba stationierten, fühlten sich die US-Amerikaner in derart hohem Maße bedroht, dass dies beinahe zu einem Atomkrieg geführt hatte. Wenn nunmehr moderne Waffensysteme in Polen stationiert werden, ist es also nur verständlich, dass der Kreml ebenfalls allergisch darauf reagiert. Ein Ausgreifen der NATO auf die Ukraine wäre indessen tatsächlich das Vordringen des westlichen Militärbündnisses in eine Region der ehemaligen Sowjetregion, deren Osten noch dazu in weiten Teilen auch von Russen besiedelt ist. Ob nun Wladimir Putin tatsächlich so weit gehen wird, um diesen russisch dominierten Osten der Ukraine auch militärisch zu besetzen und so wie vor wenigen Jahren die Krim der russischen Föderation einzuverleiben, bleibt abzuwarten. Mit dem Erzwingen eines Plebiszits im östlichen Landesteil könnte eine solche Maßnahme nach dem Prinzip des Selbstbestimmungsrechts der Völker sogar nachträglich absichern.
Die gegenwärtigen Spannungen zwischen Russland und der NATO sollten allerdings nicht von den grundsätzlichen geopolitischen Fragen ablenken. Und da ist es das zentrale Problem, wie sich EU-Europa künftig hin gegenüber Russland verhält. Vergessen werden darf ja nicht, dass die Russen mit nahezu 140 Millionen Menschen das stärkste europäische Volk sind, das allerdings auch teilweise auf asiatischen Boden siedelt. Davon leben 115 Millionen Russen in Russland selbst und immerhin 23 Millionen in anderen benachbarten Staaten. Dass der Kreml sich als Schutzmacht dieser Menschen sieht, ist legitim. Wie weit deshalb allerdings Eingriffe in die Souveränität anderer Staaten und Grenzänderungen möglich sind, ist eine andere Frage.
Aus einer historischen Perspektive gesehen ist es einigermaßen paradox, dass das größte europäische Volk, die slawischen Russen eben, das überdies ein christlich geprägtes Volk ist, von der europäischen Integration ausgeschlossen sein soll. Natürlich ist der größte Flächenstaat des Planeten nicht so einfach in die Integration nach dem Muster der Europäischen Union einzubeziehen wie die Slowakei oder auch ein größeres Land wie Polen. Und natürlich stellt sich die Frage, wie weit ein derart großes und militärisch mächtiges Land nicht hegemoniale Ansprüche im Zuge einer solchen Integration hätte. Dennoch liegt es auf der Hand, dass die Europäische Union mit dem größten europäischen Volk, mit einem anderen europäisch dominierten Staat besondere und engere Beziehungen haben müsste als mit allen anderen Bereichen auf diesem Planeten.
Solcher Art könnte die EU, die gegenwärtig ja machtpolitisch im globalen Ringen nur eine Statistenrolle zu spielen vermag, zum wirklichen weltpolitischen „Player“ werden. Ein Bündnis Europas mit Russland wäre ein veritables Gegengewicht zur abstiegsgefährdeten USA und zum immer offensiver werdenden roten Giganten China.
Natürlich gibt es da das Problem der mangelnden Demokratie und der immer wieder auftretenden Gefährdung der Menschenrechte in Russland. Da müsste der Kreml einmal daran gehen, die alten moskowitischen autokratischen Tendenzen zu hinterfragen und zu eliminieren. In der Europäischen Union allerdings sollte man diesbezüglich vom hohen Ross heruntersteigen und angesichts der eigenen Demokratiedefizite gegenüber Russland ein geringeres Maß an Selbstgerechtigkeit äußern.
Andererseits bestünde die Möglichkeit, dass das wertkonservative Gesellschaftsmodell, das in Putins Russland dominiert, die Betonung von Patriotismus, Familiensinn und Bewahrung der eigenen Kultur, befruchtend auf die einigermaßen dekadenten Gesellschaften EU-Europas einwirkt.
Die Traditionen der Aufklärung, wie sie in Europa entwickelt wurden und die Tiefe der russischen Seele sollten hier auf der Basis der christlich europäischen Kultur eine gemeinsame zukunftsträchtige Entwicklung der europäischen Kulturvölker ermöglichen. Ein Modell, das als Gegenentwurf zum hyperdekadenten Zeitgeist der US-amerikanischen gesellschaftlichen Entwicklungen mit „political correctness“, „me too“, black lives matter“, „wokeness“, etc. auf der einen Seite und auf der anderen Seite zum totalitären staatskapitalistischen Systems Chinas taugen könnte. Ob ein solches Modell allerdings angesichts der realen Verhältnisse der Gegenwart, der Zuspitzung der Konfrontation zwischen Russland und dem Westen, wie wir sie in diesen Tagen erleben müssen, denkmöglich wäre, ist wenig wahrscheinlich – leider!