Eine multipolare Weltordnung

Der Gegenentwurf zur „one world“

Was war die Welt noch einfach, wie übersichtlich war die Weltpolitik, als es noch die beiden großen Machtblöcke, die US-dominierte NATO und den sowjetbeherrschten Warschauer Pakt gab. Als der freie Westen und der kommunistische Ostblock einander gegenüberstanden. Da war nichts anderes wichtig, der Rest war Dritte Welt und das kommunistische China dämmerte in strikter Isolation dahin. Mit dem Zusammenbruch des real existierenden Sozialismus des Sowjetblocks glaubten manche politische Beobachter, dass nunmehr der Sieg der westlichen Demokratie im globalen Ausmaße bevorstehe, dass es demnach nur eine Supermacht, nämlich die USA mitsamt ihren Verbündeten in Europa und damit die Dominanz der westlichen Demokratie geben werde. Weltweit, so meinte man, müsse sich diese westliche Demokratie durchsetzen und die Zivilreligion der Menschenrechte würde darüber gewissermaßen als letztgültige moralische und ethische Maxime mit globalem gesamtmenschlichem Anspruch schweben. Die gesamte Völkergemeinschaft von den ehemals kommunistischen Sowjetrepubliken bis hin zu den Entwicklungsländern, von den Schwellenländern bis hin zu den islamischen Gottesstaaten, alle, alle müssten sich diesem westlichem Gesellschafts- und Staatsmodell beugen, wobei der Neoliberalismus als Ordnungsmodell, der Freihandel, die freie Marktwirtschaft als ökonomisches System obsiegen würden. „One world“, eine Welt, gleichgeschaltet im Sinne der politischen Korrektheit, würde somit gewissermaßen zum finalen Ziel der Menschheitsgeschichte werden.
Diese durchaus im Sinne des Neoliberalismus und des Spätkapitalismus entwickelte Vorstellung einer neuen Weltordnung war kurioserweise von den kulturkommunistischen Konzepten des neuen Menschen in einer klassenlosen Gesellschaft und der Überwindung ethnischer und kultureller Unterschiede nicht allzu weit entfernt. Beide Konzeptionen, sowohl die neoliberale von der globalen Gleichschaltung der Nationen als auch die kulturkommunistische von der Nivellierung des Individuums an sich, ignorierten die Unterschiedlichkeit und die Vielfalt der Menschen, seiner gesellschaftlichen Entwicklung und seiner kulturellen Eigenheiten. Und beide Konzepte sind im Grund deshalb auch gescheitert.
Im Zuge der beiden ersten Jahrzehnte des neuen Jahrhunderts hat sich nämlich eine multipolare Welt herauskristallisiert, die sich durch mehrere machtpolitische Zentren, durch eine Vielfalt globaler „Player“ und auch durch völlig unterschiedliche staatspolitische Wertvorstellungen auszeichnet. Zuletzt wurde das Versagen der neoliberalen „One-World“-Konzeptionen am desaströsen Scheitern der US-Politik in Afghanistan deutlich. Und so finden wir neben den westlichen Industriestaaten, neben der traditionellen Super- und Weltmacht USA samt dem nordamerikanischen Flächenstaat Kanada und dem sich integrierenden Europa eine Reihe anderer machtpolitischer Zentren auch diesem Planeten. Wladimir Putins Russland, das sich nach dem Absturz und Zerbrechen des Sowjet-Vielvölkerstaats wieder festigen konnte, spielt hier ebenso eine weltpolitische Rolle wie vor allem das ökonomisch aufstrebende China. Daneben spielt die islamische Welt eine Rolle, die südamerikanischen Schwellenländer rund um Brasilien ebenso, aber auch Indien und der Südkontinent Australien.
Traditionelle und überkommene Ordnungsmodelle wie das britische Commonwealth würden hier zur bloßen historischen Hülle degradiert und bisher bestehende Dominanz, wie sie die USA gemeinsam mit der NATO auszuüben vermochte, wurde relativiert. Natürlich sind die US-Amerikaner nach wie vor die stärkste Militärmacht des Planeten, innere Zerrissenheit aber, struktureller und ökonomischer Niedergang relativieren diese Militärmacht in beträchtlichem Maße. Und die Europäer, die insgesamt noch immer das ökonomische Zentrum des Planeten sein könnten, werden durch zunehmende gesellschaftliche Dekadenz und machtpolitische Mutlosigkeit zum eher zweitrangigen „Player“ in der Weltpolitik.
Bleiben Wladimir Putins Russland und das kommunistische China mit seinem staatskapitalistischen Wirtschaftssystem. Nach dem Zwischenspiel mit Boris Jelzin ist Russland längst auf die weltpolitische Bühne zurückgekehrt und spielt dort eine wichtige und durchaus maßvolle Rolle. Verglichen mit den militärischen Abenteuern der USA, die samt und sonders im Fiasko zu enden pflegen, ist Putins militärisches Engagement beispielsweise in Syrien entsprechend begrenzt, aber effektiv. Der syrische Machthaber Assad vermochte sich nur mit russischer Hilfe zu behaupten. Und was China betrifft, so vermochte das KP-Regime seinen Bürgern durchaus ein gewisses Maß an gesichertem Wohlstand zu gewährleisten und gleichzeitig weltweit zum ökonomischen Rivalen der westlichen Mächte zu werden. Längst hat die Wirtschaftsmacht China einen Status auf Augenhöhe mit den USA und auch mit der Europäischen Union.
Verbunden mit dieser Multipolarität der gegenwärtig real existierenden Weltordnung ist auch eine Pluralität der gesellschaftlichen und ökonomischen Systeme, der Werthaltungen, die hinter den einzelnen Mächten stehen. Das sind einerseits die Demokratien westlicher Prägung, wobei sich schon in den Vereinigten Staaten demokratiepolitische Auflösungserscheinungen zeigen beziehungsweise Spaltungen in die beiden antagonistischen Lager, die auf dem Wege des demokratischen Konsenses nicht mehr überwunden werden können.
Da sind die gesteuerten Demokratien, wie sie etwa in Putins Russland existieren, in qualitativer Hinsicht gar nicht mehr so weit davon entfernt. Und autoritäre Systeme, wie die KP-Diktatur in China oder der islamische Gottesstaat im Iran, oder diverse Oligarchien in Schwellenländern zeigen, dass es hier eine Vielfalt politischer Ordnungssysteme gibt, die mit westlichen oder europäischen Maßstäben nicht zu messen sind. Es dürfte eine Folge des alten, herkömmlichen eurozentrischen Weltbildes sein, dass die Europäer, und in ihrer Folge die US-Amerikaner glaubten, es müssten sich weltweit auch europäische beziehungsweise westliche Wertmaßstäbe und Staatsvorstellungen durchsetzen. Von dieser Vorstellung muss man sich wohl in einer multipolaren Welt verabschieden. Und selbst die angeblich universellen Menschenrechte sind solcherart nur bedingt gültig und durchsetzbar. In der Kastengesellschaft Indiens, in schwarzafrikanischen Staaten mit traditionellen Stammesstrukturen, aber auch in Ländern wie dem kommunistischem Kuba gelten eben andere Maßstäbe. Wer sich in dieser multipolaren Weltordnung durchsetzt, wer die Führungsposition erringt, ist offen. Die globale Hegemonie der USA gehört jedenfalls der Geschichte an, die Pax Amerikana ist Vergangenheit. Deshalb allerdings muss sich längst noch keine chinesische Weltordnung durchsetzen, es könnte vielmehr ein Konzert der Weltmächte entstehen. Und dabei könnten auch neu Weltmächte aufsteigen. Bisherige Regionalmächte wie Indien, der Iran, Brasilien, die Türkei, zeigen deutliche Ambitionen, über ihre bisherigen regionalen Einflusssphären hinauszuwirken.
Für uns Europäer stellt sich die Frage, ob wir in diesem Konzert der Weltmächte, wie es das ­21. Jahrhundert zu prägen scheint, noch eine Rolle spielen. Traditionelle Großmächte wie Frankreich und das Vereinigte Königreich sind angesichts der neuen Maßstäbe auf sich selbst gestellt, auch zu schwach dafür. Deutschland, die führende Wirtschaftsmacht der Europäischen Union, vermeidet es bislang peinlich, überhaupt Machtpolitik gleich welcher Art, zu betreiben. Die Union insgesamt taumelt von einer Krise in die andere und vermag sich nicht wirklich als weltpolitischer und machtpolitischer „Player“ zu etablieren. Und bislang gibt es kaum gegenteilige Tendenzen. Eher schon werden die zentrifugalen Kräfte zwischen den europäischen Mächten wirksamer, da kann der Brexit möglicherweise nur ein erster Schritt gewesen sein. Und dennoch muss man festhalten: Die einzige Chance der europäischen Nationen, sich künftig weltpolitisch zu behaupten, liegt in der Gemeinsamkeit.

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