Eine Nation schafft sich ab

Gedanken zum österreichischen Nationalfeiertag

Wenn Österreich am 26. Oktober alljährlich seinen Nationalfeiertag begeht, ist dies der Tatsache geschuldet, dass gesamtgesellschaftlich weitgehend die Existenz einer eigenständig österreichischen Nation akzeptiert wird. Dies ist bekanntlich erst seit wenigen Jahrzehnten der Fall. Wenn es in der Habsburger Monarchie völlig unbestritten hieß, dass das Gebiet der heutigen Republik Österreich das Territorium der deutschen Erblande des Kaiserhauses sei, wenn es in der Ersten Republik noch ebenso unbestritten hieß, Österreich verstehe sich als der „bessere Deutsche Staat“, so entwickelte man nach der Niederlage Hitler-Deutschlands und der Wiederbegründung der Republik im Jahre 1945 zunehmend die Vorstellung, dass Österreich eine ethnisch und kulturell eigenständige Nation sein solle und müsse.
Da argumentiert man, dass man ethnisch in Folge der alten Monarchie so etwas wie ein Mischvolk sei und dass auch die Kultur unverwechselbare eigene Züge träge, die uns von der deutschen Kulturnation abtrennen würden. Ebenso hieß es sarkastisch: „Was uns von den Deutschen trennt, ist die gemeinsame Sprache“, wobei man tatsächlich versuchte, ein eigenständiges österreichisches Deutsch zu entwickeln. Insgesamt jedenfalls setzte man, von der alten Herder’schen Konzeption der Sprach- und Kulturnation abgehend, auf das Konzept einer eigenständigen Staatsnation. Und während der 26. Oktober ursprünglich als „Tag der Fahne“, dann als „Staatsfeiertag“ gefeiert wurde, ist er nunmehr – weitestgehend unbestritten – seit Jahrzehnten eben unser Nationalfeiertag.
Kaum begründet und allgemein akzeptiert, scheint sich diese Nation aber nunmehr auch schon wieder abzuschaffen. Und dabei spielen mehrere Faktoren eine Rolle: Einerseits natürlich die Europäisierung. Wer von den „Vereinigten Staaten von Europa“ träumt, überdies gar von einem europäischen Nationalbewusstsein, ist implizit bereit, ein eigenes separates Nationalbewusstsein preiszugeben. Das steht außer Frage. Die ökonomische Globalisierung und die weltweite Kommunikation und Mobilität führen zusätzlich dazu, dass sich regionales Sonderbewusstsein relativiert, wenn nicht gar wieder auflöst. Ein kleinstaatliches Nationalbewusstsein, wie es seit 1945 im Zuge der Konstituierung der österreichischen Nation propagiert wurde, hat dem gegenüber verständlicherweise eine zunehmend schwache Prägekraft.
Auch der bereits seit den Fünfzigerjahren stets steigende intensive ökonomische Austausch zuerst mit der Bundesrepublik Deutschland und dann, nach 1989/90, mit dem wiedervereinigten Deutschland führte dazu, dass die Konstituierung einer eigenen österreichischen Nation als Antagonismus zur alten deutschen Volks- und Kulturnation zunehmend schwierig wurde. Die menschlichen Querverbindungen durch Österreicher, die in Deutschland leben und arbeiten und umgekehrt, sowie der intensive mediale Kontakt führten dazu, dass eine ethnisch und insbesondere kulturell eigenständige österreichische Nation zunehmend unrealistisch und unrealisierbar wurde. Intensive gegenseitige Arbeitsmigration und ein nach ökonomischen Notwendigkeiten geformter Medien-Markt bedingen die weitgehende Kongruenz einer gerne zitierten Österreichischen Kulturnation mit der gesamten „German speaking world“.
Abgesehen von diesen Faktoren ist es aber die Massenmigration aus dem nichteuropäischen Bereich, welche die junge österreichische Nation in den letzten Jahrzehnten zunehmend infrage stellt. Erst jüngst wieder bei der Wiener Landtags- und Gemeinderatswahl wurde deutlich, dass tendenziell nahezu die Hälfte der Wohnbevölkerung der österreichischen Bundeshauptstadt mit nichtdeutscher Muttersprache sich keineswegs als Angehörige einer österreichischen Kulturnation empfinden kann. Dies ist sogar nach den Kriterien der viel beschworenen Integration für weite Bereiche der Zuwanderer-Population denkunmöglich.
Beispielsweise können sich auch noch so gut integrierte Türken – und auch solche mit guten Sprachkenntnissen und österreichischer Staatsbürgerschaft – wohl kaum als Angehörige der österreichischen Nation fühlen. Gerade sie empfinden sich weitestgehend nach wie vor als nationalstolze Osmanen.
Und ähnlich dürfte es sich bei den meisten anderen Zuwanderungspopulationen verhalten. Ausnahme davon sind allenfalls jene Migrantengruppen, die aus dem benachbarten Bereich Österreichs stammen, die ehemals zu Habsburger Monarchie gehörten: Serben, Kroaten, Slowenen, Ungarn, Tschechien und Slowaken dürften sich weit schneller integrieren, ja assimilieren und könnten sich somit sehr wohl als integrierte Teile einer österreichischen Staatsnation empfinden – trotz ihrer andersnationalen Wurzeln.
Wer nun argumentieren wollte, dass gerade die österreichische Nation als Frucht des alten kakanischen Völkergemischs eine Zuwanderungsnation durch Integration verschiedenster Völkerschaften aus aller Welt sein könnte, übersieht, dass die meisten Zuwendungspopulationen ihre National­sitten und Gebräuche, ihre Wurzeln und ihre Sprache keineswegs aufgeben wollen, sondern weit eher dazu neigen, Parallelgesellschaften zu bilden, um sich solcherart gewissermaßen als neue Volksgruppen innerhalb des österreichischen Staatsgefühles zu konstituieren.
Diese Zuwanderungs-Communities – und davon gibt es dutzende, mit jeweils mehr als etwa 10.000 Menschen – haben jedes andere Interesse, nur nicht jenes, sich in eine österreichische Volks- und Kulturnation zu integrieren. Österreichische Staatsbürger sein, das österreichische Sozialsystem zu nutzen, das natürlich ja! Aber einen Assimilationsprozess durchzumachen, um wirklich integrierter Bestandteil einer österreichischen Kulturnation zu sein – dieses Interesse besteht mit Gewissheit in nur höchst geringem Maße.
Wenn also die autochthonen Österreicher durch weitere Massenzuwanderung und weit größeren Kinderreichtum der Zuwanderungspolulationen in wenigen Generationen zur Minderheit im eigenen Lande zu werden drohen, könnte sich eine eigenständige österreichische Nation als eher kurzlebiges Konstrukt erweisen, das in einem multikulturellen, multiethnischen und multichaotischen Europa, in einer destabilisierten Konfliktgesellschaft obsolet wäre.
Staatsbürgerliche Loyalität beziehungsweise auch Respekt von Zuwanderern ohne Staatsbürgerschaft, könnte die Republik sehr wohl von der gesamten Wohnbevölkerung verlangen. Mögen sich die autochthonen Österreicher in ihrer großen Mehrheit einer österreichischen Nation zugehörig fühlen, ein kleiner Teil von ihr vielleicht noch der alten deutschen Kulturnation, so sollte diese Loyalität und dieser Respekt auch von den Menschen mit Migrationshintergrund eingefordert werden. Die Hoffnung, dass dieser früher oder später ein integrierter Bestandteil einer österreichischen Kulturnation wird, kann daneben bestehen bleiben, allerdings dürfte dies einen länger andauernden Zeithorizont erfordern. „Nation-Building“ ist nämlich ein Prozess, der nicht von heute auf morgen vonstatten geht. Und diese politische, aus Opportunität­ geborene Idee einer österreichischen Nation, als Abkopplung von der deutschen nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und dem Zusammenbruchs des Deutschen Reiches, ist wohl selbst noch so wenig gefestigt und historisch noch so wenig gesichert, dass die zusätzliche Integration von Menschen mit Migrationshintergrund aus dem außereuropäischen Bereich überaus schwierig sein dürfte.
Ob also eine österreichische Nation Mitte dieses Jahrhunderts noch existent sein wird, ist alles andere als gewiss.

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