Von der Prägung des Menschen durch seine Behausung
Wer beispielsweise die ehemalige britische Kronkolonie Hongkong kennt oder die Plattenbauten im postkommunistischen Teil Osteuropas oder auch neue Super-Hochhäuser in den Golfstaaten, der weiß, dass die Menschen, die dort leben – Tausende oft in nur einem Bau –, im Grunde wie Ameisen in einem Ameisenhügel, wie Termiten in einem Termitenbau leben müssen. Dicht gedrängt, Tür an Tür, Mauer an Mauer, in kleinsten Wohneinheiten und doch voneinander isoliert. Weitgehend anonym, nicht einmal den unmittelbaren Nachbarn kennend und doch gezählt, nummeriert, kontrolliert und von der jeweiligen Obrigkeit absolut überwacht.
Dass der Mensch, das Individuum, welches unter solchen Umständen sein Leben zu verbringen hat, gewisse Eigenschaften und Verhaltensweisen entwickelt, die eben dieser Wohnsituation entspringen und ihr auch entsprechen, ist völlig klar. Einerseits wird er das wenig individualisierte Selbstgefühl des Massenmenschen entwickeln, andererseits die Vereinsamung und persönliche Marginalisierung desselben erleiden. Individuelle Selbstbestätigung und Entfaltung der eigenen Persönlichkeit, Kreativität und Zivilcourage sind durch eine so geartete Wohn- und Lebenssituation zwangsläufig unterentwickelt. Das im Kollektiv des Termitenbaus lebende und dadurch auch geprägte Menschenwesen stellt zweifellos die willige und formbare Manövriermasse für jedwede Form von Manipulation und obrigkeitsstaatlicher Lenkung dar. Der Massenmensch, der in den Megacitys der Zukunft in solchen Termitenbauten lebt, dürfte allerdings in den kommenden Jahrzehnten die breite Mehrheit der Menschheit ausmachen. Die Landflucht und das Zusammenströmen der Menschen in gewaltigen Ballungsräumen werden zwangsläufig dazu führen.
Bis in die Mitte des vorigen Jahrhunderts lebte die Mehrheit der Menschheit im ländlichen Raum, in kleinen Dörfern oder gar in Einzelgehöften und in kleineren Städten. Die Entwicklung dieser Megacitys, insbesondere in der Dritten Welt, hat erst mit der Bevölkerungsexplosion der letzten Jahrzehnte eingesetzt. Die Menschheit mit tendenziell zehn Milliarden Köpfen wird also nicht mehr verstreut über die breite Fläche des Planeten leben, sondern zentriert in den großen Ballungsräumen dieser Megacitys. Dies ergibt sich auch aus der Logik des Erwerbslebens und der Arbeitssituation der Menschen in der Zukunft. Wenn bis zum Beginn der Industrialisierung im 19. Jahrhundert Ackerbau und Viehzucht, also die Landwirtschaft, die primäre Erwerbsquelle der Menschen darstellten, und sie ihr Dasein als Bauern und Landarbeiter fristeten, musste der Industriearbeiter zwangsläufig im Umfeld der Fabriken und Industrieanlagen wohnen und leben. Und der Massenmensch der Zukunft, der, wenn er nicht arbeitslos ist, als Dienstleister weitgehend über das Internet und soziale Medien in den Produktionsprozess eingegliedert sein wird, muss in diesen Megacitys seinen Lebensraum finden und gestalten.
In den vielen Jahrtausenden davor allerdings hat der Mensch den Weg zur Zivilisation, seine kulturelle Evolution, in einer Wohnsituation und Lebensweise beschritten, die dem Individuum Raum und Platz zu Entfaltung geboten hat. Natürlich hat es auch in der Antike Großstädte gegeben, in denen sich Menschenmassen in Wohnsilos, wie etwa im alten Rom oder in Karthago zusammenballten, die Mehrheit der Menschen lebte allerdings damals auf dem Lande, sei es als Bauern oder als Sklaven in Latifundien. Deshalb musste die Wohn- und Lebenssituation der Menschen noch lange nicht komfortabel oder gar luxuriös sein. Die Sklavenquartiere der Antike und die Bauernkaten der Leibeigenen im Mittelalter waren sicher alles andere als luxuriös. Damals wie heute kam es auf den sozialen Status an, auf den Stand und das Vermögen, ob man reich oder arm, Bürger, Bauer oder Bettler war. Das Bild, das wir von der Geschichte von Philemon und Baucis kennen, wo die lieben alten Leute idyllisch in einer Hütte leben, hat natürlich mit der seinerzeitigen Realität kaum etwas zu tun.
Dennoch verfügte das menschliche Individuum über Raum und Platz. Der Mensch ist ein soziales Wesen, wenn man so will ein Herdentier, er benötigt aber auch so etwas wie ein eigenes Territorium. Dieses mag klein und begrenzt sein, es ist aber – so lehrt uns die Verhaltensforschung – notwendig, um als Persönlichkeit ohne die Entwicklung von Psychosen überleben zu können.
Nun hat die Aristokratie in der Geschichte des Abendlandes stets die Möglichkeit gehabt, sich privilegierte Lebensräume und eine entsprechende Wohnsituation zu schaffen. Schlösser und Burgen boten das feudale Umfeld für Repräsentation und Hofhaltung, nicht zu vergessen ist auch die militärische Komponente, die auch den Adel immer wieder mit schöner Regelmäßigkeit dazu zwang – etwa bei Belagerungen diese Schlösser und Burgen – in einer beengten, unerfreulichen Wohnsituation zu leben.
Mit der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft im Spätmittelalter und in der Neuzeit verlagerte sich die Wohnsituation der Menschen zuerst einmal in kleinere, dann in zunehmend große Städte. Und dabei war es natürlich eine Frage des sozialen Status und des Vermögens, wie großzügig der Wohnraum für den jeweiligen Bürger und seine Familie, sowie sein Gesinde bemessen war. Gotische Fachwerkhäuser und danach Stadtpalais aus Renaissance und Barockzeit mögen feudal und großartig wirken, sie alle aber verfügten weder über fließendes Wasser noch über entsprechende Sanitärbereiche für die menschliche Notdurft oder das menschliche Reinigungsbedürfnis.
Erst in der Wohlstandsgesellschaft, wie sie sich im Zuge des Wirtschaftswunders nach dem Zweiten Weltkrieges entwickelte, konnten sich die Menschen zunehmend den Traum vom Eigenheim – die typischen Häuslbauer in Österreich etwa – in großer Anzahl leisten. Zuvor hatten nur schwerreiche Bürger und Aristokraten die Möglichkeit, sich Villen in den Vororten der Städte bauen zu lassen, nunmehr konnten auch Kleinbürger und Arbeiter bescheidene Einfamilienhäuser errichten. Und damit sind wir beim Wunschtraum des durchschnittlichen Mitteleuropäers und insbesondere des Österreichers, nämlich dem Häuschen mit eigenem Garten.
Dieser Wunschtraum mag darauf zurückzuführen sein, dass die meisten Menschen in unseren Breiten über wenige Generationen zurück von Bauern oder zumindest auf dem Lande lebenden Menschen abstammen. Sie mögen mit dem eigenen Häuschen vielleicht einen unterschwelligen Wunsch nach Rückkehr zur alten, einstigen Lebensweise verwirklichen. Und zweifellos entspricht das Streben nach dem Eigenheim samt Garten, Gartenzaun und möglichst Swimmingpool auch der Erkenntnis, dass sowohl der Einzelmensch als auch die Familie mit Eltern und Kindern damit über einen geschlossenen und sicheren Wohnraum mit Bewegungsfläche im Garten, auch Fläche für mögliche Selbstversorgung mit Lebensmitteln verfügen. Und instinktiv wissen die Menschen wahrscheinlich auch, dass eine Wohn- und Lebenssituation dieser Art individuelle Selbstentfaltung, gesunde Lebensweise und ein glückliches Familienleben ermöglicht.
Nun kann natürlich nicht jedermann – schon gar nicht auf einem Planeten mit mehr als acht Milliarden Menschen – ein „Freiherr“ sein. Die Illusion als „freier Mann auf freier Scholle“ leben zu können, kann nicht für alle Realität werden. Dies ist allein wegen der zunehmend hohen Kosten für Eigenheime nur mehr in geringem Maße möglich. Und überdies gibt es natürlich auch das Problem, dass durch den typischen Häuslbauer die Landschaft zunehmend versiegelt und zubetoniert wird. Dennoch bleibt der Wunsch nach dem Eigenheim im Grünen eine zentrale Hoffnung die meisten Europäer und vor allem der Österreicher. Und überdies bleibt es eine Tatsache, dass Menschen die in einer solchen großzügigeren naturnahen Wohn- und Lebenssituation ihre Existenz verbringen, schlicht und einfach andere Verhaltensweisen und eine andere Mentalität entwickeln als jene, die wie anonyme Termiten ihr Leben fristen müssen.