Österreichs politische Landschaft als Spielwiese der Mächtigen
Was soll, was muss Politik eigentlich tun im freiheitlichen Rechtsstaat in der parlamentarischen Demokratie? Nur so viel wie absolut notwendig, möglichst wenig also, lehren uns die Prinzipien des liberalen „Nachtwächterstaates“ und so ist es in entwickelten Demokratien! Dort ist alles erlaubt, was nicht verboten ist! Und zwar verboten durch korrekt und formal richtig zustande gekommene Gesetze im Zuge des parlamentarischen rechtsstaatlichen Verfahrens. Gesetze wohlgemerkt und keine ministerlichen Erlässe, keine Notverordnungen (nach Aushebelung des Parlaments) und schon gar keine geschmäcklerischeren Empfehlungen irgendwelcher hohen Herren. Und wenn etwas verboten ist, so ist es nur möglich zum Schutz anderer Rechtsgüter oder eben der Rechte anderer Bürgern.
In den letzten Wochen erlebten wir nun eine völlig andere Situation: Plötzlich war das Land beherrscht von einer neuen paternalistischen Politik, und in schönster Untertanenmentalität fragten die Bürger zaghaft bei der Obrigkeit deroselbst an, was denn erlaubt sei, was sie tun dürfen und was sie lassen müssten. So nach dem Motto: Hierzulande ist alles verboten, was nicht ausdrücklich erlaubt ist. Und die Regierenden ließen sehr rasch erkennen, dass sie Geschmack fanden an dieser neuen Situation: Da verbreitete der Bundeskanzler – offenbar strategisch geplant – Furcht und Strecken in der Bevölkerung, mit dem Verweis auf 100.000 Coronatote, jeder würde einen kennen, und auf die „Ruhe vor dem Sturm“. Und ein grüner Vizekanzler, der bislang als ach so liberal und tolerant galt, äußerte in der besten Manier eines Zuchtvaters, dass man „die Kette auspacken“ würde, wenn die Bevölkerung nicht diszipliniert bliebe. Vom Innenminister ganz zu schweigen, der mit triumphaler Körpersprache wöchentlich aufs Neue verkündete, wie viele rigorose Bestrafungen „seine Polizei“ getätigt hätte.
Und siehe da, die Bevölkerung, der Wahlbürger, schien dies zu goutieren. Alle Meinungsumfragen bestätigen, dass die Bevölkerung in hohem Prozentsatz hinter der Regierung und ihren Maßnahmen stand. Sowohl die türkis eingefärbte Partei des Bundeskanzlers als auch seine grüne Adlatus-Gruppe vermochten Traumwerte bei den Umfragen zu erzielen. Würde gegenwärtig gewählt werden, hätten sie wohl eine Zweidrittelmehrheit im Parlament. Und genau an diesem Punkt kann man feststellen, dass neben den Erfordernissen der Krisenbewältigung – möge man diese nun gut oder schlecht finden – politische und zwar pro Partei politische Machtspiele inszeniert werden. Zwar ist es in der Demokratie, insbesondere in Parteienstaaten, absolut legitim, wenn man Politik auch zur taktischen Vorteilsnahme für die eigene Partei nützt, es ist aber wenig anständig, wenn man mit forcierten Krisenängsten parteipolitisches Kleingeld macht. Von der politischen Moral her hat die Politik das zu tun, was notwendig ist. Die politischen Akteure, die Machthabenden, die Regierenden haben das Notwendige zu tun, um Not abzuwenden von der Bevölkerung, vom Souverän, von den Menschen, von denen sie gewählt werden. Wenn sie dann zum Dank oder als Anerkennung auch bestätigt werden, d.h. also wieder gewählt werden, wenn sie also das Vertrauen der Bürger erneut bekommen, ist das Ausdruck politischer Vernunft und durchaus pragmatischer Zustimmung durch die Menschen.
Wenn man sich diese aber durch Angstmache, durch Verdrehungen, durch Täuschung erschleicht, muss man das als üble Machtspiele bezeichnen. Dass Parteistrategen und Spindoktoren neben den Experten für die Krisenbekämpfung genau derlei Machtspiele inszenieren, ist in unserer Politik längst Selbstverständlichkeiten geworden. Kritisch wird es allerdings, wenn die Experten für die Krisenbekämpfung und die Parteistrategen ident sind und wenn man sich als Analytiker und kritischer Bürger fragen muss, was denn bei ihrer Beurteilung und bei ihrer Betätigung dominant war: das Machtspiel oder die Krisenbekämpfung.
Die türkise Truppe des Sebastian Kurz, die gegenwärtig den Eindruck einer höchst kompetenten und höchst erfolgreichen Krisenbewältigungsgruppe machen will, ist zweifellos auch ein erfolgreiches Spieler-Team in Sachen Machtspiele: Ein knappes Dutzend junger Leute, alle um die 30, zumeist ohne größere Lebenserfahrung, ohne sonderliche berufliche Höchstleistungen, weitgehend auch ohne Familien, schlichtweg ohne Lebenserfahrung, hat ein politisches System entwickelt, einen Modus der Machtspiele, mittels dessen man zuerst einmal die alte ÖVP-Garde und den vormaligen Obmann Mitterlehner aushebelte. Diese juvenile Truppe hat es auch geschafft, die ÖVP-Granden in den Bundesländern und in den Bünden der Volkspartei ruhig zu stellen. Und sie beherrscht mittels „Message control“ nicht nur den eigenen Informationsapparat, sie hat es in der Krise mittels millionenschwerer Subventionen geschafft, sich die Mainstreammedien des Landes, vom Staatsfunk ORF über die Boulevardzeitungen bis hin zu den selbst ernannten Qualitätsblättern, gefügig zu machen. Der ORF als reiner Regierungsfunk hat Quoten wie kaum jemals zuvor. Die früher den Regierenden immer wieder höchst lästigen Boulevardblätter sind ebenfalls zu Verlautbarungsorganen der Regierung verkommen. Die größte Tageszeitung des Landes – Hans Dichand wird sich im Grabe umdrehen – ist zur Angstmache-Postille im Sinne der Regierungsmaßnahmen verkommen, und die beiden Leitfossilien am Qualitätsmedienmarkt, der „Standard“ und die „Presse“, könnten gegenwärtig Blattlinie und Kommentierung nahezu austauschen.
Diese juvenile Truppe um Sebastian Kurz hatte Ihresgleichen in der Geschichte Österreichs – wenn auch natürlich jeweils unter anderen Umständen – vielleicht nur in der Buberlpartie des Jörg Haider und Jahrzehnte zuvor – natürlich unter völlig anderen, höchst verwerflichen den Umständen – im Kreise der österreichischen Gauleiter zur Anschlusszeit, die samt und sonders auch noch keine 30 Jahre alt waren. Dieser Juvenilitätswahn, der sich in dem bislang erfolgreichen Agieren der Kurz-Truppe manifestiert, war natürlich auch ein Kennzeichen der Achtundsechziger in den ersten Jahren nach ihrem politischen Marsch durch die Institutionen. Indessen sind diese 68er längst zu Alt-68ern geworden, wie etwa der grüne Vizekanzler. Sie scheinen aber einen gewissen Gefallen oder zumindest eine gewisse Toleranz gegenüber den Machtspielen der Kurz-Truppe zu haben. Machtspiele waren der Linken mit ihren zahlreichen Fraktionierungen von den Maoisten bis zur Gruppen der revolutionären Marxisten nicht fremd und so etwas wie ein gewisser autoritärer Grundzug in der Politik einstiger kommunistischer, maoistischer Sympathisanten ist vielleicht ebenso vorhanden und trifft sich dann mit dem kaum verdeckten autoritären Neigungen , die sich in der Kurz-Truppe manifestieren. Boshafte Beobachter nennen dies das „Dollfuß-Gen“.
Aber die Machtspiele der Kurz-Truppe haben es immerhin geschafft, eine Regierungskoalition mit den Sozialdemokraten zu brechen, eine solche mit den Freiheitlichen vorzeitig aufzulösen und nunmehr mit den Grünen – wie lange noch – zu paktieren. Diese Machtspiele haben auch etwas Spielerisches. Die juvenile Truppe des Sebastian Kurz scheint solcher Art die politische Landschaft aber auch als Spielwiese zu betrachten, als Spielwiese, auf der sie Strategien erproben, taktische Finessen durchexerzieren und Grenzen ausloten. So haben sie beispielsweise dieGrenzen der Belastbarkeit der Bevölkerung ausgelotet, sie haben erprobt, wie schnell und wie leicht man Bürgerrechte, Grundrechte aushebeln, suspendieren kann und sie haben natürlich auch die Belastbarkeit und die Leidensgrenze ihrer politischen Gegner, sprich der parlamentarischen Opposition, ausgetestet.
Alldem haftet eine gewisse spielerische Leichtigkeit der politischen Strategie und der Maßnahmen an. Und es ist auch eine spielerische Inszenierung, von der diese ganzen politischen Machtspiele begleitet werden: Die Inszenierung der Pressekonferenz, der Einmarsch im gleichen Abstand, gewissermaßen in Gleichschritt mit aufgesetzten Masken, das Ritual der nahezu täglichen Pressekonferenzen und die geradezu liturgische Präsenz in den Verlautbarungsmedien, also in insgesamt allen Mainstreammedien. Ausgetestet hat diese juvenile Gruppe im Zuge ihrer Machtspiele auch die Gefügigkeit des etablierten Journalismus. Sie hat es geschafft, dass der eine oder andere so genannte Anchorman des Staatsfunks Gefälligkeitsinterviews ohne nachzufragen durchführt. Allenfalls gibt es wohlwollende Scheinkritik. Und sie hat es geschafft, die wenigen Nonkonformisten – Querulanten gewissermaßen – zu lokalisieren, die sich vereinzelt noch gegen die Regierungsmaßnahmen zu Wort gemeldet haben.
Was daraus werden wird, ist ungewiss. Es wäre weit überzogener Alarmismus, zu behaupten, dass Sebastian Kurz und sein türkises Küchenkabinett von der paternalistischen Staatsführung hin zu einer autoritären gelangen wollte, mit erfolgreicher „Message control“ aller Mainstream-Medien, der Marginalisierung jeglicher parlamentarischer Opposition. Die Versuchung zu einer Politik dieser Art mag vorhanden sein, allein sie dürfte von den Mechanismen des Rechtsstaats, unserer Verfassung und den Usancen unserer entwickelten in Demokratie bereits im Keim erstickt werden. Und wenn die Menschen des Landes in ihrer qualifi zierten Mehrheit merken, dass neben den zweifellos notwendigen Krisenbekämpfungsmaßnahmen massive Machtspiele getrieben wurden, wird die Zustimmung in den Umfragen beziehungsweise in allfällig anstehenden Wahlen auch dramatisch sinken.