Geht das Zeitalter der Globalisierung zu Ende?
In welcher Epoche leben wir? Diese Frage wird man wohl erst retrospektiv von den Historikern beantwortet bekommen, und in der Rückschau erscheint es ja relativ einfach zu sein. Wenn wir das 20. Jahrhundert, dieses schreckliche Jahrhundert betrachten, so ist es relativ einfach: Einerseits zeichnet es sich durch ein Paradoxon aus, nämlich dadurch, dass es nur 75 Jahre gedauert hat, nämlich von 1914, vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs, bis 1989, dem Zusammenbruch des Sowjetkommunismus und damit zum Ende der Supermachtkonfrontation. Und wenn man die Unterteilungen dieses kurzen, aber schrecklichen Jahrhunderts betrachtet, so erscheint auch alles relativ klar zu sein. Da ist der Erste Weltkrieg, dann die Zwischenkriegszeit, dann der Zweite Weltkrieg, schließlich der Kalte Krieg und die darauffolgende Entspannung bis hin zum Ende der bipolaren Weltordnung durch die Implosion des realexistierenden Sozialismus sowjetischer Prägung.
Was das Zeitalter danach, also die letzten drei Jahrzehnte betrifft, ist die die Sache schon schwieriger. Da hat der US-amerikanische Politologe Francis Fukuyama zu Beginn dieser Ära vom „Ende der Geschichte“ gesprochen, indem er davon ausgegangen ist, dass die liberale Demokratie westlicher Prägung einen globalen Siegeszug angetreten hat. Dann hieß es, es sei das Zeitalter des Neoliberalismus, in dem die freie Marktwirtschaft in einer globalisierten Welt triumphiert, und schließlich kristallisiert sich in den letzten Jahren eine Interpretation des Geschehens heraus, die von einer multipolaren Weltordnung ausgeht. In dieser steht der Supermacht USA das kommunistische, aber staatskapitalistische China als stärkster Konkurrent gegenüber, begleitet von einem wieder erstarkendem Russland, einer weltpolitischen eher ohnmächtigen Europäischen Union und Schwellenländern wie Brasilien. Zusätzlich gibt es jenen Chaos-Bereich, der sich quer über den Globus von Lateinamerika über weite Bereiche Afrikas, bis hin zum Nahen und Mittleren Osten erstreckt, in dem der „clash of civilisation“, der Kampf der Kulturen, wie ihn Samuel Huntington schilderte, tobt. Dass dieser Kampf der Kulturen indessen weite Bereiche der westlichen Industriestaaten, insbesondere Europas, im Zuge der Massenmigration erfasst hat, steht auch außer Frage.
Frontstaaten dieses globalen Kulturkampfes, wie etwa Afghanistan, der Iran, der Sudan, der Irak, Syrien oder Libyen, in denen der Westen, angeführt von den USA, immer wieder versucht, seine Wertvorstellungen auch mit militärischer oder zumindest mit politischer Gewalt durchzusetzen, bleiben in dieser Epoche der Globalisierung neuralgische Punkte.
Wenn nunmehr dieses Zeitalter des Neoliberalismus und der Globalisierung just durch ein globales Phänomen, nämlich die Corona-Epidemie, beendet wird, muss dies wohl als List der Geschichte betrachtet werden. Die beginnenden 20er Jahre des neuen Jahrhunderts stehen bekanntlich weltweit im Zeichen der Seuche. Einer Seuche, die bei näherer Betrachtung eine relativ harmlose Krankheit darstellt, die vergleichsweise zu anderen Seuchen der Weltgeschichte wie der Pest eine geringe Mortalität aufweist, die aber gesamtgesellschaftlich unglaubliche Folgewirkungen zeitigen dürfte. Solcherart könnte die Corona-Pandemie tatsächlich so etwas wie einen Epochenwechsel einläuten. Die Tatsache nämlich, dass die einzelnen Nationen der Völkergemeinschaft glaubten, der Seuche nur eigenständig und vor allem durch Abschottung begegnen zu können, durch verschärfte Grenzkontrollen und massive Reisebeschränkungen, macht supranationale Verbände mehr oder minder obsolet. Die Europäische Union spielte in der Pandemiebekämpfung eine höchst untergeordnete Rolle, und die ehernen Werte der europäischen Integration, wie etwa die Freiheit des Personenverkehrs, waren plötzlich absolut hinfällig.
Ebenso verhält es sich mit dem Welthandel. Lieferketten, die im Zuge der freien Marktwirtschaft und des globalisierten Marktes entstanden sind, wurden plötzlich unterbrochen oder dergestalt verteuert, dass sie schlicht unwirtschaftlich wurden. Globalisierte Arbeitsteilung, wo etwa für westliche Märkte in Billiglohnländern produziert wurde, wurde durch die neue Abschottung nahezu liquidiert. Und insbesondere westliche Industriestaaten in Europa müssen sich gezwungenermaßen wieder dazu entschließen, Produktionen wieder verstärkt ins eigene Land zurück zu verlagern. Dies dürfte zwar keine Rückkehr zu alten Autarkie-Konzepten verursachen, aber doch eine verstärkte Regionalisierung des Wirtschaftslebens.
Neben der damit gegebenen Regionalisierung des ökonomischen Gefüges wurde im Zuge der Corona-Pandemie auch die individuelle Mobilität, der globale Tourismus in hohem Maße eingeschränkt. Die Rückgänge der Reisebranche verursachen naturgemäß wirtschaftliche Probleme, sie bedeuten aber auch, dass die zwischenmenschlichen Kontakte, die insbesondere in den reicheren Nationen nahezu in allen Gesellschaftsschichten weltweite persönliche Kontakte ermöglichen, massiv reduziert wurden und sogar im kleinräumigen Grenzverkehr, etwa zwischen einzelnen EU-Staaten, wurden während der letzten beiden Corona-Jahre grenzüberschreitende Kontakte verunmöglicht beziehungsweise minimiert. Zwar waren diese grenzüberschreitenden Reisen, Ausflüge, Urlaube oder auch berufliches Pendeln kaum jemals wirklich unmöglich, die staatlichen Verordnungen, angedrohte Kontrollen, die kaum durchgehend realisiert wurden, und die mediale Panikmache verängstigten aber die meisten Menschen und brachten sie dazu, derlei grenzüberschreitende Mobilität einzuschränken oder ganz zu unterlassen.
Ob dieser Rückbau auf kleinräumigere Lebensverhältnisse und Verhaltensweisen in ökonomischer und gesamtgesellschaftlicher, auch in kultureller Hinsicht nach dem Abklingen der Corona-Pandemie von Dauer sein wird, bleibt abzuwarten. Da der Mensch aber auch zu großen Teilen ein Gewohnheitstier ist und Dinge und Verhaltensweisen, an die man sich einmal gewöhnt hat, nur schwer wieder ändert, könnte man davon ausgehen, dass die Pandemie tatsächlich eine neue Epoche einläutet, die jene der neoliberalen Globalisierung beendet. So wie man sich an Homeoffice, an E-Learning und den Einkauf über Amazon gewöhnt und dies möglicherweise nach dem Ende der Pandemie auch beibehält, so dürften viele der Corona-bedingt verordneten neuen Regeln im öffentlichen, aber auch im privaten Bereich weiter bestehen. Und auch das paternalistische, ja sogar autoritäre Verhalten der Staatsorgane gegenüber ihren Bürgern könnte zur neuen Normalität werden. Ebenso wie die Regionalisierung oder Renationalisierung des Wirtschaftslebens und der Mobilität.
Wenn man vergleichsweise die „wilden 20er“ des 20. Jahrhunderts heranzieht, so waren diese in Mitteleuropa geprägt von Hyperinflation, Massenarbeitslosigkeit und Wirtschaftskrise, andererseits aber von überschäumender Lebensfreude und geradezu exzessiver Geselligkeit. Ob man dereinst sagen wird, dass die 20er des neuen Jahrhunderts von Seuchenangst, autoritären staatlichen Maßnahmen und ökonomischem Rückbau geprägt waren, darf angenommen werden, aber es bleibt abzuwarten, ob es als Ausgleich dazu auch neue Lebensfreude und Geselligkeit wie vor 100 Jahren geben wird. Feststehen dürfte allerdings, dass die Entwicklung zur schrankenlosen Globalisierung in allen kulturellen und wirtschaftlichen Lebensbereichen, wie wir sie in den letzten 30 Jahren erlebt haben, durch die Corona-Pandemie gebremst, wenn nicht sogar beendet sein dürfte. So gesehen bedeutete die Corona-Pandemie zweifellos einen Epochenwechsel.