Über das unselige Erbe des Panslawismus
Die slawische Welt zwischen Warschau und Wladiwostok, zwischen Murmansk und Banja Luka umfasst einerseits den größten Flächenstaat des Planeten, Russland nämlich, andererseits eine Fülle von kleineren Nationen zwischen Baltikum und Balkan, die sich immer wieder als Krisenherde, als Bereiche potenzieller Konflikte in der jüngeren europäischen Geschichte und in der Gegenwart erwiesen haben. Politische Stabilität gab es in dieser Großregion nur in Zeiten, in denen übernationale Imperien das Feld beherrschten. Ob es im alten Europa das zaristische Russland einerseits und andererseits Preußendeutschland und die Habsburger Monarchie waren oder nach 1945 die Sowjetunion und Tito-Jugoslawien: Nur durch die Unterdrückung der nationalen Egoismen und Souveränitätsbestrebungen war da zwischenzeitlich solche Stabilität gewährleistet.
Stets, wenn Hegemonialmächte entsprechend geschwächt waren, traten die nationalen Antagonisten in dieser slawischen Welt massiv hervor. Insbesondere im südslawischen Bereich, auf dem Balkan, zeigte sich dies nach dem Zusammenbruch des zentralistisch geführten Tito-Jugoslawien: Serben gegen Kroaten, Orthodoxe gegen Katholiken und alle gemeinsam gegen die muslimischen Bosniaken und die albanischen Kosovaren. Das sind Konflikte, die über Generationen immer wieder hervorbrechen, allzumal dann, wenn es keine übergeordnete Zentralgewalt gibt, wie es seinerzeit die Habsburger Monarchie oder eben danach Tito-Jugoslawien war. Und auch im Nordosten Europas gab es immer wieder Konflikte zwischen den katholischen Polen und den orthodoxen Ukrainern und Russen, aber auch in der nachmaligen Tschechoslowakei zwischen Tschechen und Slowaken, was letztlich zum Auseinanderbrechen des Staates führte.
Dabei war die Idee des Panslawismus, die ihren Höhepunkt im 19. Jahrhundert fand, eine, die von der Einigkeit der slawischen Völker ausging. Unter der Patronanz von „Mütterchen Russland“ sollte hier ein geopolitisch und machtpolitisch dominanter Faktor entstehen, dessen Schutzherr der Zar in St. Petersburg war. Katholische Völker wie die Polen, die Tschechen und die Slowaken, aber auf dem Balkan auch die Slowenen und Kroaten waren von dieser Idee in geringerem Maße fasziniert. Die Weißrussen, die Ukrainer aber und auf dem Balkan wohl auch die Bulgaren und die Serben neigten wohl auch wegen ihrer Zugehörigkeit zur von Moskau dominierten Orthodoxie eher zu diesem panslawistischen Großraum-Träumen. Dennoch bewies die Idee des Panslawismus in den großen militärischen Auseinandersetzungen des 20. Jahrhunderts ihre Strahlkraft. Die Tschechen als habsburgische Untertanen erlagen diesen panslawistischen Verlockungen im hohen Maße. So lief das Prager Hausregiment bereits in den ersten Kriegstagen mehr oder minder geschlossen zur russischen Armee über. Und in der frühen Phase der Sowjetunion waren es wohl auch panslawistische Ideen, die Weißrussen und Ukrainer dazu bewegten, sich dem Kreml zu unterwerfen.
Der Sieg der Roten Armee im Zweiten Weltkrieg über die Deutschen ermöglichte es dem Kreml und der KPdSU, ihre Herrschaft über den gesamten slawischen Bereich in Europa auszudehnen, mit Ausnahme des Balkans, dessen slawische Völker im ebenso kommunistischen Tito-Jugoslawien leben mussten. Die Bulgaren, Tschechen und Slowaken und die Polen, natürlich auch die Ukrainer und die Weißrussen waren Teil des Warschauer Pakts und somit des sowjetischen Imperiums. Wenn der heutige Kreml-Herr Wladimir Putin den Zusammenbruch der Sowjetunion und die Auflösung des Warschauer Pakts als die größte geopolitische Katastrophe des vergangenen Jahrhunderts bezeichnet, so ist dieser aus Moskauer Sicht gewiss verständlich und diese Auflösung bedeutete auch das Ende der panslawistischen Konzeption, da sich die Polen, Tschechen und Slowaken sofort in Richtung EU und NATO orientierten. Von den baltischen Staaten, die ja von nichtslawischen Völkern dominiert sind, war dies gewissermaßen selbstverständlich anzunehmen, für Polen, Tschechen, Slowaken und Bulgaren bedeutete es aber auch des Ende der panslawischen Solidarität. Und auf dem Balkan war nach der Auflösung Tito-Jugoslawiens ohnedies der Zug in Richtung Westen, in Richtung Europäische Union abgefahren. Kroaten und Slowenen wurden sehr rasch Mitglied der EU, Serbien und Montenegro, Mazedonien, Kosovo und Bosnien befinden sich im Warteraum, wobei insbesondere in Belgrad die Verbindung mit Moskau noch immer eine unterschwellige Achse darstellt.
Als in Folge von Perestroika und Glasnost die Sowjetunion implodierte, die Auflösung des Warschauer Pakts erfolgte und die Wiedervereinigung zwischen Bundesrepublik und „DDR“ möglich wurde, gab es zweifellos informelle Zusagen, dass das westliche Verteidigungsbündnis nicht in den Bereich der ehemaligen Sowjetunion vorstoßen werde. Zähneknirschend musste der Kreml zwar hinnehmen, dass die baltischen Staaten, Polen, Tschechien und die Slowakei und Bulgarien dem westlichen Verteidigungsbündnis beitraten, ebenso wie der Europäischen Union, wenn dies aber in der Folge auch für die Ukraine angedacht wurde, war das für Wladimir Putin nicht mehr hinnehmbar. Als sich die Ukraine im Zuge der orangen Revolution 2004/05 von Moskau emanzipierte, verlor der Kreml jenes geopolitische Vorfeld, das ihm gemeinsam mit Weißrussland noch so etwas wie eine sichere Distanz zur NATO zu gewährleisten schien. Der von Moskau sicherlich mehr oder minder geschürte Konflikt in der Ostukraine mit ihren neun Millionen ethnischen Russen war die Folge dieser Abwendung Kiews von Moskau und nun scheint der Kreml-Herrscher Putin gewillt zu sein, Russland nicht nur wieder zur weltweiten Großmacht zu machen, sondern eben auch zur klaren Hegemonialmacht im Bereich der slawischen Nationen. Da sind insbesondere Weißrussland und die Ukraine mit ihrer eng verwandten Bevölkerung ein zentrales Objekt der Begierde für Moskau.
Und auch im Bereich der Südslawen auf dem Balkan wird sich ein nach neuer internationaler Stärke strebendes Russland nicht davon abhalten lassen, seine Einflusssphäre abzustecken. Mit Serbien und Montenegro gibt es immer noch zwei Staaten, die sich Russland und der Orthodoxie verbunden fühlen. Dieses geopolitische Machtstreben Russlands kollidiert auf dem Balkan allerdings mit neo-osmanischen Ambitionen, die naturgemäß von der Türkei des Recep Tayyip Erdogan gestützt werden. Und es kollidiert auch mit den Islamisierungs-Tendenzen im Kosovo und in Bosnien, die nicht zuletzt von den Golfstaaten finanziert werden. Dann gibt es natürlich noch die NATO-Staaten Kroatien und Slowenien, sowie die Tatsache, dass Serbien selbst ein Beitrittswerber für die Europäische Union ist. All diese Faktoren schaffen auf dem Balkan ein Konglomerat von Konfliktlinien, die sich gegebenenfalls jedenfalls verstärken könnten. Zwar zeichnet sich gegenwärtig kein neuer Balkankrieg ab, die Aversionen aber zwischen den Balkanvölkern sind ungebrochen und Verbrechen der jüngeren Geschichte, wie jenes von Srebrenica, sind längst nicht aufgearbeitet. Die beiden Balkan-Autokraten Milosevic und Tudjman sind zwar tot und Geschichte und allgemein herrschen einigermaßen demokratische Zustände. Die Bosnienfrage ist aber längst noch lange nicht gelöst, der Kosovo nach wie vor ein Pulverfass und Montenegro und Mazedonien sind auch noch keine stabilen Staaten. Das Erbe des Panslawismus auf dem Balkan besteht also darin, dass sich die Serben als deklassierte und diskriminierte Nation fühlen, dass eine Reihe von Krisenstaaten existieren und die Antagonismen zwischen katholischen und orthodoxen Slawen unverändert fortbestehen. Präziser müsste man also sagen, statt Panslawismus gibt es auf dem Balkan ungelöste innerslawische Konflikte.
Ähnlich ist es im nordöstlichen Bereich Europas, wo nur noch die Weißrussen gewillt scheinen, die Hegemonie des Kremls anzuerkennen. In Konfliktregionen wie der Ostukraine, Kaukasus und in Transnistrien werden die russischen Machtansprüche auf Dauer wohl kaum zu verhindern sein. Gesamtslawische Solidarität aber, wie sie einst vom Panslawismus eingefordert wurde, existiert längst nicht mehr.