Unsere Pseudoneutralität

Da weilt unser Außenminister, der Herr von Schallenberg, in Kiew, um den verängstigten Ukrainern Mut zuzusprechen. Gemeinsam mit seiner bundesdeutschen Kollegin Baerbock und dem EU-Außenbeauftragten Borrell versichert er mit schmeichelweicher Stimme, dass Österreich im Falle einer russischen Offensive die schärfsten Sanktionsmaßnahmen mittragen werde. Und der Herr Bundeskanzler erklärt währenddessen in Wien, dass Österreich noch nie neutral gewesen sei, wenn es um den Frieden gehe.
Dabei bleibt die Logik einigermaßen auf der Strecke, da Neutralität ja nur im Falle von Auseinandersetzungen kriegerischer oder diplomatischer Natur einen Sinn gibt. Zweifellos ist richtig, dass unser Land längst nicht mehr neutral ist. Bereits vor 30 Jahren in einem der Irakkriege erlaubte die damalige große Koalition Überflüge von NATO-Flugzeugen über unser Territorium und den Transport von schweren Waffen. Und spätestens seit dem EU-Beitritt müssen wir zur Kenntnis nehmen, dass europäische Solidarität wichtiger wäre also unsere angeblich immerwährende Neutralität. Dass Bundesheersoldaten auf der Seite der NATO in Afghanistan standen – ein kleines Kontingent zwar, aber immerhin – und dass das Bundesheer unter NATO-Kommando am Balkan tätig war, ist dann nur noch wenig überraschend. Und so spielt die immerwährende Neutralität in unserem Land im aktuellen Konflikt zwischen Russland und der NATO offenbar überhaupt keine Rolle mehr. Wenn Österreich noch im Kalten Krieg als neutraler Staat Treffpunkt für die mächtigsten Politiker der damaligen Welt, für den US-Präsidenten Kennedy und den sowjetischen KPdSU-Generalsekretär Chruschtschow war, ist es heute allenfalls ein minimaler Faktor im Rahmen der EU, die ja selbst kaum ein Gewicht hat bei der Schlichtung des gegenwärtigen Konflikts. Da spielen nur der US-Präsident Biden und der Großrusse Wladimir Putin eine Rolle. Und wenn sich diese treffen, dann wird es wohl kaum im nicht mehr neutralen Österreich sein.Überhaupt ist die Idee, dass unser Land als neutraler Staat in der Mitte Europas eine Vermittlerrolle in solchen Konflikten spielen oder zumindest ein neutraler Treffpunkt für Gespräche sein könnte, völlig verschwunden. Auch ist keinerlei Bemühen seitens unserer Regierung feststellbar, die Problemlage aus dem Blickwinkel beider Konfliktparteien zu sehen. Da wird zwar die territoriale Integrität der Ukraine beschworen, dass es aber auch legitime russische Interessen geben könnte, wird völlig missachtet. Das neutrale Österreich könnte etwa darauf hinweisen, dass es in der Ost­ukraine bis zu neun Millionen ethnische Russen gibt, für die der Kreml legitimerweise die Schutzmacht ist, und man könnte darauf aufmerksam machen, dass es in den baltischen Staaten bis zu 40 Prozent russische Bevölkerung gibt, die nach wie vor in der ach so demokratischen EU eingeschränkte Bürgerrechte haben. Österreich könnte auch darauf hinweisen, dass es ein „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ gibt und man in umstrittenen Gebieten, wie etwa der Ostukraine, doch unter internationaler Aufsicht Plebiszite durchführen könnte, um die Frage, wohin das Territorium nach dem Willen der Bevölkerungsmehrheit solle, zu klären.
Aber derlei Überlegungen werden in Wiener Regierungskreisen in keiner Weise erwogen. Man hat sich von der immerwährenden Neutralität längst verabschiedet und beschwört diese allenfalls in Sonntagsreden. Zwar hat man bislang vermieden, offiziell einem Militärbündnis beizutreten, de facto aber marschiert man mehr oder weniger unkritisch mit in den Reihen der NATO-Staaten.
Denn eines ist klar, eine gemeinsame europäische Sicherheitspolitik gibt es nach wie vor nicht, und die vor langen Jahren angedachte Europäisierung des Nordatlantikpaktes hat niemals stattgefunden. Dieser ist nach wie vor der verlängerte Arm der US-Amerikaner und das vorgeblich immerwährend neutrale Österreich ist somit nicht mehr und nicht weniger als ein zwar wenig bedeutender, aber doch eindeutiger Erfüllungsgehilfe der Politik dieses Militärbündnisses. Und so erweist sich die immerwährende Neutralität, die angeblich ein unverzichtbarer Bestandteil der österreichischen Identität in der Zweiten Republik geworden ist, längst als heuchlerische Konstruktion, die in den politischen Realitäten weitestgehend bedeutungslos geworden ist.

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