Es war Ignaz Seipel, jene so dominante politische Persönlichkeit, die in der Ersten Republik alle anderen überragte – Prälat, Theologie-Professor und Bundeskanzler, der einmal in aller Entschiedenheit äußerte: Es könne nicht die Mission der Erben der Türkenbezwinger sein, ihr Vorgärtlein gegen Eintrittsgeld zur Schau zu stellen. Und damit meinte er, dass die alte Ostmark des fränkischen und des frühen deutschen Reiches und das spätere Kernland der römisch-deutschen Kaiser aus dem Hause Habsburg sich nicht bloß dem Fremdenverkehr verschreiben könne, sondern eine andere darüberhinausgehende, eine höhere Mission zu erfüllen habe.
Heute, im postmodernen EU-Europa und einer weitgehend globalisierten Welt, nahezu ein Jahrhundert nach der Aussage Seipels, scheint Österreich genau diesen Daseinszweck zu haben und genau nur diese Mission zu erfüllen, nämlich die, eines der wichtigsten Tourismusländer Europas zu sein. Und in erster Linie als touristische Attraktion betrachtet zu werden, also eine Art Alpen-Disneyland.
Tatsächlich sind es ja die Schönheiten der österreichischen Natur, vom Hochgebirge Vorarlbergs, Tirols, Salzburgs und Kärntens bis hin zu den Ausläufern der Alpen im Wiener Wald, die Flusslandschaft rund um die Donau, die Seen Kärntens und des Salzkammerguts und die milden Hügeln mit ihren Weingärten der südlichen Steiermark und des Burgenlands, die Österreich zu einem Traumziel für Erholungssuchende und Urlauber machen. Als zweites ist es das kulturelle Erbe, welches das Land in der Nachfolge der Habsburger Monarchie und des Heiligen Römischen Reiches aufzuweisen hat, welches kulturbeflissene Menschen aus aller Welt anzieht. Dieses kulturelle Erbe und die daraus resultierende Bausubstanz, aber auch die Hochkultur etwa im Bereich der Musik von der Staatsoper bis zu den Salzburger Festspielen, im Bereich der Malerei – man denke an die Sammlungen des Kunsthistorischen Museums und des Belvederes – und natürlich auch die Volkskultur mit ihren alpin-bodenständigen Ausformungen, all das sind Attraktionen für Fremde aus nah und fern.
Und dann sind es natürlich die Menschen, gastfreundlich und überhaupt sehr offen für ihre Mitmenschen. Und der Lebensstil dieser Bewohner des Landes, die Kulinarik, der Wein, die Geselligkeit, was ideale Voraussetzung für ein Tourismusland ausmacht.
Und schließlich ist es die Gegensätzlichkeit der Jahreszeiten, die das Land einerseits zu einer bevorzugten Destination im Winter und für den Wintersport machen und andererseits mit warmen, milden Sommern Badevergnügen, Wandererlebnisse und althergebrachte Sommerfrische ermöglichen.
All das sind die Ingredienzien, die ein Ferien- und Urlaubsparadies ausmachen. Und unabhängig davon, an welcher Stelle sich das Land gerade in den internationalen Rankings der Urlaubsdestinationen befindet, kann man feststellen, dass Österreich zweifellos optimalste Voraussetzungen für ein Urlaubsparadies mit sich bringt. Das einzige was ihm fehlt, ist Meer und Küste. Und dennoch kann die Alpenrepublik es im touristischen Wettbewerb locker mit den meisten Küstenanrainerstaaten aufnehmen. Und tatsächlich ist die volkswirtschaftliche Bedeutung des Tourismus und der Tourismuswirtschaft für Österreich eminent hoch und übersteigt wahrscheinlich alle anderen Erwerbsbereiche.
Damit ist allerdings auch ein überaus starker gesellschaftlicher Wandel einhergegangen: Aus Bauern wurden Hoteliers, aus Landarbeitern wurden Liftwarte, aus Bergwerken wurden Museen, aus stillgelegten Industriegeländen Erlebnisparks. Schotterwerke mutierten zu Schotterteichen und schließlich zu Badeseen, Adelssitze, also Schlösser und Palais, wurden zu Tummelplätzen für Kulturtouristen. Und die einstigen imperialen Prunkbauten, die Kaiser und Reich symbolisierten, sind erstrangige touristische Attraktionen.
Dort, wo es also einst produzierende Industrie gab, Bergbau und Landwirtschaft, Handwerk und Gewerbe, dort sind heute Dienstleistungen im Tourismus nunmehr primären Erwerbsquelle für viele Menschen geworden. Ganze Berufsstände, eben Bergknappen, Bauern, Stahlarbeiter, Handwerker sind einer breiten Schicht von Dienstleistern gewichen. Und überspitzt könnte man sagen, die Österreicher seien ein Volk von Museumswärtern, Skiliftbilleteuren, und Oberkellnern geworden.
Das mag nun übertrieben sein, Tatsache bleibt es aber, dass Schuster und Schneider, Bergknappen und Almsenner sich in der heimischen Berufsstatistik kaum mehr finden, während die Gastronomie und das tourismusorientiere Dienstleistungsgewerbe einen zunehmend größeren Bereich eingenommen haben.
Der Tourismus hat natürlich auch Auswirkungen auf die charakterliche Beschaffenheit einer Bevölkerung, die hauptsächlich von ihm lebt: Während Gastfreundschaft im klassischen europäischen Sinne selbstlos zu sein hatte und ohne unmittelbar erwartete Gegenleistung funktionieren musste, basiert der moderne Tourismus natürlich genau auf dem Prinzip der Entgeltlichkeit. Da hat alles seinen Preis und wer entsprechend bezahlen kann, erhält auch alles. Da gibt es kaum Schamgrenzen und auch keine Tabus im Hinblick auf die Käuflichkeit. Damit gibt es aber auch zwangsläufig Abneigung gegen jene, denen man zu Diensten sein muss. Wer sich vor Augen hält, mit welchen Aversionen Gästen am Ende einer Saison in hochtouristischen Regionen begegnet wird, der weiß wovon da die Rede ist. Man braucht nicht die „Pfiefke-Sager“ des Tiroler Schriftstellers Felix Mitterer gesehen zu haben, um zu wissen, wie sehr die „bundesdeutschen Gäste“ im Hochtourismus Land Tirol nicht nur ausgenommen, sondern auch verabscheut werden.
So etwas wie ein parasitäres Verhältnis zur Tourismuswirtschaft hat naturgemäß der Spitzensport, aber auch der Kunst- und Kulturbetrieb. Dass etwa die heimischen Spitzensportler im Bereich des Wintersports, des Skilaufs, des Skispringens für den Wintertourismus eine eminent wichtige Rolle spielen, liegt auf der Hand. Spektakuläre Erfolge der österreichischen Sportler bei großen internationalen Wettbewerben wie Weltmeisterschaften oder Olympischen Spielen haben für die heimischen Wintertourismus zweifellos eminenten Werbewert. Und umgekehrt war es natürlich auch der Tourismus, der durch die breitflächige Erschließung der alpinen Landschaft für den Wintersport erst die Grundlage geboten hat dafür, dass Bauernbuben eben zu Skifahrern und Spitzensportlern werden konnten.
Gleichermaßen gibt es natürlich ein solch symbiotisches, böse könnte man sagen parasitäres Verhältnis, auch des Kunst- und Kulturbetriebs mit der Tourismuswirtschaft. Außer Zweifel steht, dass die Hochkultur eben kulturbeflissene Reisende anzieht und dass etwa der Wiener Städtetourismus nicht zuletzt von der Kunst und nicht nur vom kulturellen Erbe lebt. Am deutlichsten wird diese wechselseitige Abhängigkeit im Bereich der diversen Festspiele und großen Ausstellungen.
Von den Salzburger Festspielen bis zur Bregenzer Seebühne am Bodensee oder und bis zur Mörbischer Bühne am Neusiedler See reisen alljährlich zahlungskräftige Kulturkonsumenten und die Wertschöpfung solcher kultureller Großereignisse für den Tourismus ist eminent.
Während diese Symbiose zwischen Tourismuswirtschaft und Sport für den Spitzensport wahrscheinlich eher eine stimulierende Wirkung hat, hat dieses symbiotische Verhältnis zwischen Kulturbetrieb und Tourismuswirtschaft eher einen nivellierenden Einfluss. Von den Kulturtouristen wird doch zumeist das konsumiert, was gefällig ist. Und von den Kulturschaffenden wird das produziert, was Quote, sprich Umsatz und Gewinn bringt.
Besonders kritisch ist der Einfluss der Tourismuswirtschaft auf das historisch gewachsene Brauchtum und auf die Sitten der ländlichen Bevölkerung zu bewerten. Brauchtumsgroßereignisse wie etwa der Villacher Kirchtag ziehen Hunderttausende an und sorgen für Millionen-Umsätze. Authentisches Brauchtum aber wird hier zum vorwiegenden Tourismusstimulator degradiert. Da, werden alpine Trachten zum modischen Accessoire, Volkstanz zur Showdarbietung und Volksmusik zur volks-dümmlichen Massenunterhaltung. Der Tourismus spielt hier die Rolle des trivialen Turbo, diese Welt eines verkitschten und kommerzialisierten Brauchtums am Leben hält und antreibt.
In gewisser Weise also hat der Tourismus sehr viel mit Prostitution zu tun. Man vermietet die eigene gute Stube, verhökert altehrwürdige Bausubstanz, vom Wiener Ringstraßen Palais bis zur Tiroler Almhütte und vermarktet die eigenen Sitten und Gebräuche. Aus Kirchtagen und kirchlichen Festen werden Events und die Ereignisse des bäuerlichen Jahrlaufes werden zu „Highlights“ im örtlichen Tourismuskalender. Und während wir solcherart unser Land und unsere Kultur zur käuflichen Ware für Fremde, für erholungssuchende Urlauber und Reisende machen, die aus allen Teilen der Welt kommen, gemacht wird, sind wir selbst gleichermaßen unterwegs in Mallorca, an der Algarve oder in Griechenland.
Und solcherart können wir erkennen, dass diese Form von Massentourismus die auch Österreich längst erfasst hat, ein Phänomen der Globalisierung ist und ein solches der Kommerzialisierung. Der entwurzelte und desorientierte Mensch des 21.Jahrhunderts versucht sich, für die kurze Zeit einer Reise, eines Urlaubs, eines Ferienaufenthalts, eine kleine Illusion von Heimat zu erhaschen. Und genau diese Illusion bietet das Tourismusland Österreich.
[…] (adsbygoogle = window.adsbygoogle || []).push({}); Ein Artikel von Andreas Mölzer […]