Freiheitliche Thesen zur Funktion des Staatsoberhaupts
Ihrer ganzen Tradition nach, die bekanntlich bis auf die bürgerliche Revolution von 1848 zurückgeht, sind Österreichs Freiheitliche überzeugte Republikaner. Für sie ist die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz eine der Grundfesten des Verfassungsstaates. Jegliches Vorrecht durch Geburt und Abstammung lehnen sie ab. Adelsprivilegien oder hohe Staatsämter durch dynastische Erbfolge sind mit diesem Denken absolut unvereinbar.
Der Freiheitsbegriff, wie er durch die griechische Philosophie und das römische Recht und die germanisch-deutsche individuelle Selbstbestimmung begründet wird, wie er durch das Gebot der christlichen Nächstenliebe, des Humanismus, der Aufklärung und schließlich durch den deutschen Idealismus definiert ist, liegt diesem Denken zugrunde. Diese durch ethische Verantwortung und staatsbürgerliche Verpflichtung gebundene Bürgerfreiheit hat nichts zu tun mit jenem Egalitarismus und der Libertinage, wie sie vom spätlinken Zeitgeist propagiert werden.
Die Gleichheit aller Menschen an Würde und die Gleichberechtigung aller Staatsbürger vor dem Gesetz schließen freiheitlichem Denken gemäß keineswegs hierarchische Strukturen im Sinne unterschiedlicher Wahrnehmung von Pflichten, Leistungen und Verantwortungen im Dienste der Gemeinschaft aus. In diesem Sinne gibt es auch im freiheitlichen Rechtsstaat eine Hierarchie der Repräsentanten der res publica. Diese Hierarchie ergibt sich aufgrund der Prinzipien der parlamentarischen Demokratie auf der Basis von freien, gleichen und geheimen Wahlen. Dieses Wahlrecht ist das vornehmste Rechte des Staatsbürgers zur demokratischen Mitbestimmung über die Repräsentanz der Republik.
Auch demokratisch verfasste Staaten mit republikanischer Verfassung benötigen in diesem Sinne eine Persönlichkeit an der Spitze, die den Gesamtstaat repräsentiert. Mit welchen Befugnissen diese Persönlichkeit ausgestattet ist, über welche Würden und Vorrechte sie verfügen kann und für welchem Zeitraum ihr dies gestattet ist, bedarf der genauesten und differenziertesten Erwägung. Es ist klar, dass in einem Lande wie Österreich, das über eine vielhundertjährige monarchische Tradition verfügt, das Amt des Staatsoberhauptes einen anderen Charakter haben wird als etwa in der Schweizer Eidgenossenschaft, wo es über Jahrhunderte direktdemokratische Mitbestimmung und kantonale Vielfalt gegeben hat. Auch die Frage, ob in Form eines Präsidialsystems das Staatsoberhaupt selbst an der unmittelbaren Tagespolitik entscheidend beteiligt ist und damit selbst im demokratischen Wettbewerb Spitzenrepräsentant einer Partei ist oder ob das Staatsoberhaupt über den Parteien zu stehen hat, muss berücksichtigt werden.
In der Verfassungsgeschichte der Ersten Republik war die Position des Staatsoberhaupts bekanntlich ein Streitfall zwischen den großen politischen Lagern. Der christlich-konservative Bereich zog bekanntlich ein Staatsoberhaupt mit dem Charakter eines Ersatzkaisers vor, während die Sozialdemokratie eine Variante präferierte, in der der Nationalratspräsident die Aufgaben des Staatsoberhaupts wahrnehmen sollte. Demnach wäre es nur eine Art Staatsnotar gewesen, der die Republik an der Spitze repräsentieren sollte. Als Kompromiss wurde dann bekanntlich im Jahre 1920 das Amt des Bundespräsidenten zwar als eigenes Staatsorgan geschaffen, seine Kompetenzen waren jedoch nur sehr schwach ausgeprägt. Dies allein deshalb, weil der Bundespräsident nur von der Bundesversammlung und nicht vom Volk gewählt wurde.
In der Verfassungsnovelle des Jahres 1929 wurde die Position des Bundespräsidenten bekanntlich unter dem Druck eher autoritär orientierter Kräfte, wie sie sich im Umfeld des christlich-sozialen Lagers, aber auch des nationalliberalen Lagers immer stärker formierten, beträchtlich aufgewertet. Zwar wurde kein wirkliches Präsidialsystem eingeführt, wohl aber als Kompromiss die Volkswahl des Bundespräsidenten sowie die Ernennung des Bundeskanzlers und auf dessen Vorschlag der Bundesminister durch das Staatsoberhaupt.
Wenn heute etwa die oppositionellen Freiheitlichen drüber debattieren, ob man das Amt des Bundespräsidenten und des Bundeskanzlers nicht zusammenlegen solle, ist das keineswegs als ein Anknüpfen an die autoritär orientierten Vorschläge des Jahres 1929 zu werten, da man ja sehr wohl auch das Schweizer Modell in diesem Zusammenhang ins Auge gefasst hat.
Und dieses Schweizer Modell mit seinem Rotationssystem, wonach Regierungsmitglieder abwechselnd die Rolle des Staatsoberhauptes einnehmen, ist zweifellos das Gegenmodell zu dem eines starken Präsidenten. Die freiheitlichen Diskussionsanstöße über eine Reform des höchsten Staatsamtes sind also eher dadurch motiviert, dass die verfassungsmäßig so starke Position des österreichischen Bundespräsidenten in der Realverfassung der Republik eher auf die bloße Funktion eines Staatsnotars reduziert wurde. Man scheint also gewillt zu sein, die Verfassung eher der politischen Realität anzupassen oder aber die Funktion des Staatsoberhauptes mit wirklicher politischer Gestaltungskraft zu verbinden.
Aus freiheitlicher Sicht wäre eine Redimensionierung des höchsten Staatsamtes in Richtung Schweizer Modell durchaus auch eine akzeptable Lösung, wenn man sich etwa entschließen könnte, die Gründungszeit der Ersten Republik zum Vorbild zunehmen und das höchste Staatsamt in einem Turnussystem durch die drei Nationalratspräsidenten wahrnehmen zu lassen, wäre dies ein durchaus sinnvoller Weg. Damit würde man der hierzulande nach wie vor unausgesprochenen Sehnsucht nach einem Ersatzkaiser eine endgültige Absage erteilen und die höchste Repräsentanz der Republik aufs engste mit dem Parlamentarismus verbinden. Natürlich würde ein Bundespräsident, der im Turnus von einem der drei Nationalratspräsidenten gestellt wird, nicht mehr die Kompetenz haben, den Regierungschef und die Regierung zu bestellen oder zu entlassen. Er könnte die vom Parlament gewählte Regierung nur bestätigen bzw. angeloben und er hätte natürlich auch in keiner Weise die Möglichkeit, das Parlament aufzulösen.
Auch die Repräsentation des Staates nach außen könnte er nur gemeinsam mit dem Regierungschef beziehungsweise dem jeweils zuständigen Fachminister vornehmen und den Oberbefehl über das Bundesheer müsste er natürlich ebenso an den Regierungschef abtreten. Eine Direktwahl durch das Bundesvolk wäre mit einem höchsten Staatsamt dieses Zuschnitts ebenso unvereinbar. Das höchste Staatsamt wäre auf diese Art und Weise auf die Funktion eines parlamentarisch kontrollierten und eingebundenen Staatsnotars reduziert.
us freiheitlicher Sicht wäre aber auch die gegenteilige Entwicklung, nämlich der Weg hin zu einer tatsächlichen Präsidialrepublik denkbar. Die Zusammenlegung des Präsidentenamts mit jenem des Regierungschefs legitimiert durch eine direkte Volkswahl, die somit im höchsten Maße eine Persönlichkeitswahl wäre, wäre durchaus denkbar. Ein solcher Art starker Bundespräsident müsste allerdings – so wie in etwa in Frankreich – in Ausnahmefällen auch mit einem System der „Kohabitation“ leben können, also mit einer parlamentarischen Mehrheit, die gegen ihn ausgerichtet wird. A priori zu behaupten, eine solche Reform des höchsten Staatsamtes würde den Weg zu einem autoritär geführten System ebenen, wäre unberechtigt. Allein das Beispiel der Vereinigten Staaten von Amerika und Frankreichs beweisen dies.
Tatsache ist jedenfalls, dass das Auseinanderklaffen zwischen der in der Verfassung gegebenen Position des Bundespräsidenten und der in der Realverfassung tatsächlich vorzufindenden Stellung desselben unbefriedigend ist – nicht nur für Verfassungsrechtler, auch für die Bevölkerung. Zu einer befriedigenden Lösung wird man allerdings nur dann gelangen können, wenn es eine neue Qualität der politischen Eliten des Landes und einen neue Qualität in den Persönlichkeiten, die hier politisch agieren, gibt. Die schönsten und ausgewogensten verfassungsmäßigen Konstrukte nützen nämlich wenig, wenn es der Politik an Ethos und an Charakter fehlt