Bereits in den vergangenen Jahren war es einigermaßen unangenehm, wenn man als Vertreter der Europäischen Union mit den türkischen Staatsspitzen – so wie der außenpolitischen Ausschuss des EU-Parlaments mit dem vormaligen türkischen Präsidenten Abdullah Gül – zu tun hatte. Man wurde nämlich schlicht und einfach belächelt.
Die durchwegs kritischen Fortschrittsberichte des EU-Parlaments in Sachen Türkei-Beitritt wurden mit Ironie abgetan und mit an Borniertheit grenzendem Selbstbewusstsein verwiesen die Gesprächspartner aus dem Kreise von Erdogans AKP darauf, dass Europa die Türkei schlicht und einfach brauche. Dies dürfte nun noch viel brutaler geworden sein. Die Flüchtlingskrise hat dazu geführt, dass Europa der Türkei schlicht und einfach ausgeliefert ist. Die Binsenweisheit, wonach die Türkei der Schlüssel zur Lösung desProblems ist, hat zur absoluten Erpressbarkeit der EU durch den osmanischen Beitrittswerber geführt. Und nachdem insbesondere die starke Frau der Union, nämlich Bundeskanzlerin Angela Merkel, auf eine ehestmögliche Entschärfung des Flüchtlingstsunamis hoffen muss, um ihre Willkommenskultur nicht zum Fiasko verkommen zu lassen, werden die EU-Spitzen in Brüssel das türkische Repressions-Potential willfährig bedienen: Da geht es zuerst einmal ums Geld. Zu der tendenziellen Milliarde, die die Türkei bis jetzt schon jährlich an Heranführungshilfe aus Brüssel bekam, werden wohl mehrere Milliarden kommen, um die Kosten der Flüchtlings-Rückhaltung zu finanzieren.
Dann soll es Erleichterungen im Visaverkehr der Türken in Richtung EU, wenn nicht gar die Visafreiheit geben. Und schließlich natürlich eine entsprechend freundliche Wiederaufnahme und Beschleunigung der Beitrittsverhandlungen, wobei durchaus ungewiss ist, ob die Türkei der Europäischen Union in ihrem jetzigen Zustand noch beitreten wird wollen. Aber einen demokratiepolitischen Persilschein durch Brüssel wird man sich auch künftighin gerne ausstellen lassen, gerade dann, wenn Erdogan durch die von ihm geplanten Verfassungsänderungen auf weißrussische Verhältnisse zusteuert. Und dann ist da natürlich auch noch das türkische Verhalten gegenüber den Kurden: Da wird die EU schon freundliche Nasenlöcher gegenüber dem Vorgehen der türkischen Armee machen müssen, und die Chance auf einen eigenen Kurdenstaat oder auch nur auf kurdische Autonomie im Osten der Türkei dürfte wieder einmal auf lange Jahre vom Tisch sein.
Wird die Türkei aber für all dieses Entgegenkommen tatsächlich dafür sorgen, dass der Flüchtlingsstrom in Richtung Mitteleuropa abreißt? Und ist sie dazu überhaupt in der Lage? Tatsache ist, dass die Türkei eines jener Länder ist, das weltweit am meisten Flüchtlinge aufgenommen hat. Mehr als zwei Millionen allein aus Syrien, und auch wenn sie diesen kein offizielles Asyl bietet, so ist es doch eine Art Gäste-Status, der den Menschen immerhin den Schutz von Leib und Leben gewährt.
Für die hochgerüstete türkische Armee und die überaus schlagkräftige türkische Polizei wäre es nun gewiss ein leichtes, die Ausreise dieser Menschen, insbesondere über die Ägäis in Richtung Griechenland, zu verhindern – wenn sie denn will. Und wenn die Türkei die notwendigen Finanzmittel hat, kann sie auf längere Dauer Flüchtlingsquartiere und Flüchtlingslager in menschenwürdigem Zustand aufrechterhalten.
Da setzen aber, bei aller Erpressbarkeit, die Möglichkeiten der Europäer ein: Wenn sie ihr Geld nachgewiesenermaßen dafür einzusetzen vermögen, aus den Elendslagern an der türkisch-syrischen Grenze menschenwürdige Camps mit vernünftiger und auf Dauer bewohnbarer Infrastruktur zu machen, um dort im konfliktnahen Bereich auf Dauer Schutzzonen sichern können, die einerseits die physische Integrität der Schutzsuchenden zu gewährleisten vermag, andererseits die Perspektive auf Heimkehr in die Heimat offenhält, dann, ja dann, wären die Milliarden der Europäer in der Türkei sinnvoll angelegt. Die Türkei selbst scheint sich unter Recep Tayyip Erdogan und seiner AKP zunehmend zu einer tendenziell autoritären Präsidialrepublik hin zu entwickeln, die ihren islamischen Charakter immer stärker betont. Als Führungsmacht hinein in den zentralasiatischen Raum der Turkstaaten, als durchaus dominante Brücke zwischen der islamischen Welt und Europa, mit Strahlkraft in der gesamten Region des ehemaligen Osmanischen Reiches bis hin nach Nordafrika und natürlich als starke militärische Regionalmacht und wichtigster Bündnispartner der USA und der NATO in diesem Bereich will die Türkei offenbar eine zunehmend wichtige machtpolitische Rolle spielen.
Ob – und wenn, zu welchen hervorragenden Sonderkonditionen – sie der EU nun beitritt, ist, wie schon gesagt, fraglich. Privilegierte Beziehungen zur Union aber und ein besonderes Gewicht durch die immer stärker werdenden türkischen Communities in den EU-Staaten selbst, insbesondere in Deutschland, sind ihr gewiss.
Wenn Erdogan nunmehr die Visafreiheit zu erpressen vermag, wird dies zweifellos einen starken türkischen Zuzug beziehungsweise ein offenes Wechselspiel insbesondere zwischen der Türkei und Deutschland bewirken, wobei die zahlreichen und sehr großen türkischen Familienverbände zunehmend Standbeine sowohl in Kleinasien als auch in Mitteleuropa haben dürften.
Die EU hat also die Wahl zwischen Skylla und Charybdis, da sie durch ein Abkommen mit der Türkei zwar den syrischen Massenzuzug mildern oder gar nahezu stoppen könnte, dafür aber umso stärkeren Zuzug von Türken erleben dürfte. Und dabei muss man von europäischer Seite längst zur Kenntnis nehmen, dass die Zuwanderungstürken keineswegs bereit sind, sich von den europäischen Völker assimilieren zu lassen. Auch dort, wo sie ökonomisch und sozial gut integriert sind, wollen sie ihre türkische Identität und ihren islamischen Glauben beibehalten und pflegen den regen Austausch mit ihrem kleinasiatischen Wurzeln. Eine Entwicklung, die Erdogan und seiner tendenziell islamistischen AKP durchaus recht sein dürfte, da sie davon ausgehen, dass die türkische Diaspora in Europa ein zusätzlicher Stützpfeiler auf den Einfluss Ankaras in der EU darstellt.
Obwohl der jüngste Fortschrittsbericht über die Beitrittsverhandlungen der Türkei zur Europäischen Union besonders negativ ausfiel und in Sachen Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit ein denkbar schlechtes Zeugnis für Ankara ausstellte, ist die Türkei für die Europäer durch die Flüchtlingskrise plötzlich zum politischen Jolly Joker geworden.
Und auch wenn sich Staatspräsident Erdogan vornehm zurückhalten dürfte und offene Erpressungen gegenüber Brüssel vermeiden wird, befinden sich die Europäer, insbesondere die Deutschen und auch die Österreicher, als Hauptzielländer der Flüchtlingsströme de facto in der Geiselhaft der Türkei.