Die Türkei ist zum Schlüssel-Staat in der gegenwärtigen europäischen Flüchtlingskatastrophe geworden. Sie beherbergt Millionen syrischer Bürgerkriegskriegsflüchtlinge, und über ihr Territorium führen alle Flüchtlingsrouten aus dem Nahen und Mittleren Osten. Pakistani und Afghanen, Iraner, Iraker, Jemeniten und andere, sie alle müssen über türkisches Territorium, um das europäische El Dorado oder gar Deutschland, das Land, in dem vermeintlich Milch und Honig fließen, zu erreichen. Die Türkei ist also zum großen Einfallstor nach Europa geworden und die Türkei, das ist in unseren Tagen Recep Tayyip Erdogan.
Nationen haben keine Freunde, sondern Interessen und nationale Führer wie Erdogan einer ist. Aufgrund von Osteuropa-Freundlichkeit oder gar Deutschen-Liebe werden die Türkei und ihr Führer Erdogan also gar nichts im gegenwärtigen Flüchtlingschaos unternehmen, sondern nur zur Wahrung ihrer Interessen. Und welche Interessen sind dies?
Erdogans Interesse besteht zuallererst zweifellos darin, seine Position als Führer der Türkei zu stärken und unangreifbar zu machen. Weiters will er nicht nur von seinen Landsleuten verehrt, sondern von den internationalen Partnern, nicht zuletzt von jenen in Europa, akzeptiert oder gar hofiert werden. Nach einigen Rückschlägen in den vergangenen Jahren, als man seinen autokratischen Stil auch in den westlichen Medien kritisierte, scheint ihm Letzteres nunmehr sehr gut zu gelingen. In Brüssel hat man ihm dieser Tage von Seiten der Spitzen-Eurokraten geradezu die Füße geküßt. Man braucht ihn nämlich. Man braucht ihn und die Türkei, um das Flüchtlingschaos einigermaßen unter Kontrolle zu bringen.
Die Idee, an der syrischen Grenze gewaltige Flüchtlingscamps mit europäischer Finanzierung zu errichten und die Türkei dazu zu bewegen, ihre Grenzen, insbesondere die Seegrenze in der Ägäis abzuriegeln, ist nämlich die wohl einzige Möglichkeit, des Problems Herr zu werden. Wenn nämlich die angeblich Schutzsuchenden erste auf europäischem Boden, etwa in Griechenland, sind, scheint sie nichts mehr stoppen zu können auf ihrem Weg nach Mitteleuropa. Der türkischen Armee hingegen und der türkischen Marine traut man dies offenbar sehr wohl zu. Aber warum sollte Sultan Erdogan dies für Europa tun?
Zuerst einmal wegen des Geldes. Die Türkei bekommt ja bereits seit Jahren von der EU eine Heranführungshilfe von tendenziell einer Milliarde Euro. Sie wird für die Errichtung und Unterhaltung der Flüchtlingscamps wohl noch viel mehr wollen. Und dann will die Türkei die Visafreiheit in Richtung EU und natürlich uneingeschränktes Wohlwollen bei den nach wie vor laufenden Beitrittsverhandlungen des Landes gegenüber der Europäischen Union. Man kann sich vorstellen, mit welch günstigen Bedingungen das Land der Osmanen ins integrierte Europa aufgenommen werden wird.
Schließlich aber will die EU aus türkischen Lagern ohnedies eine halbe Million Syrer – einmalig oder pro Jahr, das wissen wir nicht – aufnehmen. Und damit wird ein weiteres Interesse der Türken bzw. Erdogans erfüllt. Vergessen wir nicht, dass Erdogan die graue Eminenz einer islamistischen Partei ist, der AKP nämlich, und dass es ihm und seiner Partei sehr wohl recht sein dürfte, wenn Millionen zusätzlicher Moslems nach Europa strömen und damit die Islamisierung des alten Kontinents vorangetrieben wird. Gewiss, zwischen Türken und Kurden, zwischen Schiiten und Sunniten, zwischen den syrischen Bürgerkriegsparteien gibt es genug Unterschiede und Konfliktpotential. Zuletzt aber sind sie doch alle Moslems und ist ihnen der Koran und der Bart des Propheten näher als das bürgerliche Gesetzbuch und das christliche Abendland.
Und schließlich kann Erdogan durch eine zumindest vordergründig restriktive Flüchtlingspolitik seine machtpolitischen Interessen im Nahen Osten befördern. Als regionale Großmacht, die nicht nur im Bereich der zentralasiatischen Turkstaaten, sondern insgesamt in jenen des ehemaligen Osmanischen Reiches, also bis weit nach Nordafrika hinein wirkt, wird Europa, wird die EU, werden die Amerikaner und die NATO kaum eine Gefälligkeit versagen. Und natürlich wird man auch den türkischen Kampf gegen die kurdische Nationalbewegung weiter unterstützen. Die kurdischen Peschmerga, die bisher die Hauptlast des Bodenkrieges gegen den Islamischen Staat trugen, werden vom Westen wohl schmählich im Stich gelassen werden, gilt es doch, Sultan Erdogan bei Laune zu halten. Und das wird – wie gesagt – einen hohen politischen und finanziellen Preis erfordern und Europa letztlich auch nicht vor Millionen illegaler Zuwanderer bewahren.